Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Anhörung zu einer Aufhebung nach § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB 10 wegen erzielten Einkommens. Rücknahmebescheid nach § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB 10 wegen grob fahrlässiger Unkenntnis der Rechtswidrigkeit des aufzuhebenden Bescheides. Erforderlichkeit einer erneuten Anhörung. Anforderungen an eine Nachholung im Gerichtsverfahren. Aussetzung der Verhandlung zur Heilung von Verfahrensfehlern
Leitsatz (amtlich)
1. Es ist eine erneute Anhörung iS des § 24 Abs 1 SGB 10 erforderlich, wenn zu einer beabsichtigten Aufhebungsentscheidung gem § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB 10 angehört worden ist, tatsächlich aber eine Rücknahmeentscheidung erlassen und diese auf § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB 10 und den Vorwurf der grob fahrlässigen Unkenntnis der Rechtswidrigkeit des aufzuhebenden Bescheids gestützt wird.
2. Die Nachholung der unterlassenen Anhörung während des Gerichtsverfahrens setzt voraus, dass die Behörde den Kläger in einem gesonderten "Anhörungsschreiben" alle Haupttatsachen mitteilt, auf die sie die belastende Entscheidung stützen will, sie ihm eine angemessene Frist zur Äußerung setzt, sein Vorbringen zur Kenntnis nimmt und sich abschließend zum Ergebnis der Überprüfung äußert (vorliegend verneint wg zu kurzer Stellungnahmefrist).
3. Zur Aussetzung des Berufungsverfahrens gem § 114 Abs 2 S 2 SGG zur Heilung eines Anhörungsfehlers.
Nachgehend
Tenor
Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 30. September 2013 und der Bescheid des Beklagten vom 26. Juli 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Oktober 2012 werden aufgehoben.
Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die teilweise Aufhebung und Erstattung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) für die Zeit vom 29. Februar 2012 bis zum 30. Juni 2012 streitig.
Die 1955 in C. (Polen) geborene Klägerin deutscher Staatsangehörigkeit beantragte am 19. Januar 2012 bei dem Beklagten aufstockend zu dem ihr für die Zeit vom 1. September 2011 bis zum 28. Februar 2013 bewilligten Arbeitslosengeld mit einem täglichen Leistungsbetrag von 20,85 €, mithin monatlich 625,50 € (Bescheid der Agentur für Arbeit R. vom 22. August 2011), Arbeitslosengeld II (Alg II). Zur Begründung ihres Antrages gab sie an, dass das Arbeitslosengeld nicht zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts ausreiche. Sie teilte in ihrem Antrag die Höhe des bewilligten Arbeitslosengeldes sowie den Bewilligungszeitraum mit und legte den Bewilligungsbescheid der Agentur für Arbeit Reutlingen vom 22. August 2011 vor.
Mit Bescheid vom 9. Februar 2012 bewilligte der Beklagte der Klägerin für die Zeit vom 1. Januar 2012 bis zum 30. Juli 2012 Alg II in Höhe von monatlich 388,50 € (Januar 2012) 430,20 € (Februar 2012) und 1.014,00 € (März bis Juni 2012) und berücksichtigte dabei neben dem Regelbedarf für Alleinstehende in Höhe von 374,00 € die tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 640,00 € (Kaltmiete 500,00 € + Neben- und Heizkosten-Vorauszahlung 100,00 € + Stellplatz-Miete 40,00 €). Während der Beklagte im Januar 2012 Arbeitslosengeld in Höhe von 625,50 € und im Februar 2012 in Höhe von 583,80 € (anstatt 625,50 €) als Einkommen absetzte, rechnete er in der Zeit von März bis Juli 2012 das Arbeitslosengeld nicht als Einkommen an.
Durch die Vorlage der Kontoauszüge durch die Klägerin im Rahmen ihres Weiterbewilligungsantrages vom 6. Juni 2012 fiel dem Beklagten sein Fehler auf. Mit Schreiben vom 9. Juli 2012 teilte der Beklagte der Klägerin u.a. mit, dass sie Einkommen erzielt habe, das zum Wegfall oder zur Minderung ihres Anspruchs geführt habe (§ 48 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - ≪SGB X≫), kündigte für die Zeit vom 29. Februar 2012 bis zum 30. Juni 2012 eine Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung über den Betrag von insgesamt 2.393,70 € an und gab ihr bis zum 26. Juli 2012 Gelegenheit zur Stellungnahme. Am letzten Tag der gesetzten Stellungnahmefrist hob der Beklagte mit Bescheid vom 26. Juli 2012 den Bescheid vom 9. Februar 2012 für die Zeit vom 29. Februar 2012 bis zum 30. Juli 2012 teilweise in Höhe von insgesamt 2.393,70 € auf und machte die Erstattung dieses Betrages geltend (Februar 11,70 €, März bis Juli 2012 jeweils monatlich 595,50 €). Er berücksichtigte nun das um eine Versicherungspauschale bereinigte, tatsächlich zugeflossene Arbeitslosengeld in Höhe von 595,50 € (625,50 € - 30,00 €). Zur Begründung führte er aus, dass die Klägerin während des gesamten Zeitraums Einkommen aus Arbeitslosengeld erzielt habe, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruches geführt habe (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X).
Am 27. Juli 2012 ging bei dem Beklagten die Stellungnahme der Klägerin zum Anhörungsschreiben vom 9. Juli 20...