Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Erhebung eines einkommensabhängigen Zusatzbeitrags. kein Ermessen. weiter Bewertungsspielraum der Krankenkasse hinsichtlich der Deckung des Finanzbedarfs durch die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds. keine gerichtliche Überprüfung der Einschätzungsprärogative
Leitsatz (amtlich)
1. Soweit der Finanzbedarf einer Krankenkasse durch die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds nicht gedeckt ist, ist sie gesetzlich verpflichtet, von ihren Mitgliedern einen einkommensabhängigen Zusatzbeitrag zu erheben; ein Ermessen steht ihr nicht zu.
2. Den Krankenkassen steht ein weiter Bewertungsspielraum hinsichtlich der Frage zu, ob ihr Finanzbedarf durch die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds gedeckt ist, sowie der dabei zu treffenden Prognose zu den Einnahmen und Ausgaben für das Folgejahr. Die Gerichte haben die Einschätzungsprärogative der Krankenkasse zu respektieren.
Normenkette
SGB V § 242 Abs. 1 Sätze 1-3, Abs. 2 S. 2, Abs. 3, 5, § 9 Abs. 2, § 175 Abs. 4 Sätze 2, 5-7, § 194 Abs. 1 Nr. 4, § 195 Abs. 1, § 197 Abs. 1 Nr. 1, § 223 Abs. 1, §§ 242a, 261 Abs. 5; SGB IV § 23 Abs. 1 S. 4, §§ 68-69, 70 Abs. 5, § 90 Abs. 1; GG Art. 3 Abs. 1
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 08.07.2020 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der minderjährige, einkommenslose Kläger wendet sich gegen die Erhebung bzw. Anhebung des Zusatzbeitrages zur freiwilligen, gesetzlichen Krankenversicherung (KV) im Zeitraum vom 01.01.2016 bis 31.12.2017.
Der 2010 geborene Kläger ist seit seiner Geburt gemäß § 9 Abs. 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) bei der Beklagten zu 1 freiwillig kranken- und bei der Beklagten zu 2 pflegepflichtversichert (PV). Seit dem 01.08.2021 ist er bei den Beklagten familienversichert.
Seit dem 01.01.2015 erhebt die Beklagte zu 1 von ihren Versicherten einen Zusatzbeitrag zur KV i.H.v. 0,9 % (Satzung der Beklagten in der ab dem 01.07.2009 geltenden Fassung i.V.m. dem 32. Nachtrag zur Satzung vom 13.12.2014). Dieser Beitragssatz wurde zum 01.01.2016 auf 1,2 % (Satzung der Beklagten in der ab dem 01.07.2009 geltenden Fassung i.V.m. dem 39. Nachtrag zur Satzung vom 12.12.2015) und zum 01.04.2017 auf 1,5 % (Satzung der Beklagten in der ab dem 01.07.2009 geltenden Fassung i.V.m. dem 46. Nachtrag zur Satzung vom 17.03.2017) angehoben. Seitdem erfolgte keine weitere Änderung des Zusatzbeitragssatzes.
Im Dezember 2014 setzte die Beklagte zu 1 - auch im Namen der Beklagten zu 2 - für die Zeit ab dem 01.01.2015 den monatlichen Beitrag des Klägers zur KV i.H.v. 140,81 € (ermäßigter Beitragssatz 14,0% + Zusatzbeitrag 0,9%) und zur PV i.H.v. 22,21 € fest. Ergänzend führte sie an, es ergäben sich keine Änderungen bei den Beitragssätzen im Vergleich zu 2014. Diesem Schreiben fügte die Beklagte zu 1 weitere Erläuterungen bei, unter anderem über Zusatzbeiträge in der GKV ab 2015, wobei sie auf ein Sonderkündigungsrecht zum 31.01.2015 hinwies.
Mit Schreiben aus „Dezember 2015“ teilte die Beklagte zu 1 dem Kläger - auch im Namen der Beklagten zu 2 - mit, die Beitragssätze betrügen insgesamt 15,2 % bzw. 15,8 % jeweils einschließlich eines Zusatzbeitrages i.H.v. 1,2 %. Der Gesetzgeber habe zum Jahreswechsel die Beitragseckwerte angepasst. Wenn die Beitragsbemessung des Klägers über den 31.12.2015 hinaus gelte oder unbefristet gültig sei, betrage sein monatlicher Beitrag für die Zeit ab dem 01.01.2016 zur KV 147,19 € und zur PV 22,76 €. Auf Seite 2 des Schreibens führte die Beklagte zu 1 aus: „Für Fragen zum Leistungs- und Serviceangebot der KKH, aber auch zu Ihrem Sonderkündigungsrecht bezüglich Ihrer Mitgliedschaft - Details finden Sie auf dem beiliegende Informationsblatt - stehen wir Ihnen rund um die Uhr unter der kostenfreien Hotline (...) zur Verfügung."
Gegen die Beitragserhöhung im Bescheid von „Dezember 2015“, überschrieben mit „Informationen zur KKH 2016“ und „anlässlich der Erhebung eines Zusatzbeitrags in Höhe von 1,2 %“ legte der Kläger durch seinen Vater und Prozessbevollmächtigten mit Schreiben vom 14.01.2016 Widerspruch ein.
Mit Schreiben vom 24.06.2016 teilte die Beklagte zu 1 dem Kläger mit, der durchschnittliche Zusatzbeitrag für das Jahr 2015 sei seitens des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) auf 0,9 % festgelegt worden. Sie habe den Zusatzbeitrag um 0,3 Prozentpunkte auf 1,2 % angehoben. Aufgrund der Absenkung des Beitragssatzes von 15,5 % in 2014 auf 14,6 % ab dem Jahr 2015 fehlten der GKV Mittel zur Finanzierung ihrer Aufgaben. Diese müssten die Kassen über Zusatzbeiträge erwirtschaften. Der Zusatzbeitrag 2015 sei ein Instrument, die durch Absenkung des Beitragssatzes entstandenen finanziellen Lücken zu schließen, um das Leistungsniveau der GKV insgesamt aufrechtzuerhalten.
Der Kläger hielt seinen Widerspruch weiter aufrecht und führte in seinem Schreiben vom 19.07.2016 aus, die Erhebung der Zusatzbeiträge für Kinder ohne eigenes Einkommen stelle einen Grundre...