Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Entfernung eines Hodentumors. wesentliche Änderung der Verhältnisse nach Heilungsbewährung. Aufhebung des Schwerbehindertenstatus. Zehn-Jahres-Frist des § 45 Abs 3 S 3 SGB 10. kein Verbot der Aufhebung für die Zukunft. keine Verwirkung bei bloßer Inanspruchnahme der mit einem Schwerbehindertenstatus verbundenen Vorteile. zwingende Aufhebung. kein Ermessen. sozialrechtliches Verwaltungsverfahren
Leitsatz (amtlich)
1. Die Zehn-Jahres-Frist nach § 48 Abs 4 iVm § 45 Abs 3 S 3 SGB 10 gilt nur für eine rückwirkende Aufhebung, eine Aufhebung mit Wirkung für die Zukunft ist nach der an der Gesetzessystematik und dem Gesetzeszweck orientierten Auslegung dadurch nicht ausgeschlossen (so bereits BSG vom 11.12.1992 - 9a RV 20/90 = BSGE 72, 1 = SozR 3-1300 § 48 Nr 22). Diese Auslegung kann sich auch bei Anwendung des § 48 Abs 4 SGB 10 auf Verwaltungsakte, die keine Geldleistung betreffen, auf die - nach der BSG-Entscheidung erfolgte - Rechtsänderung des § 45 Abs 3 SGB 10 zu Verwaltungsakten über eine laufende Geldleistung (BGBl I 1998, 688) stützen.
2. Diese Aufhebung ist zwingend, ein Ermessen steht der Behörde nicht zu.
Orientierungssatz
1. Die Zehn-Jahres-Frist des § 45 Abs 3 S 3 SGB 10 steht einer Aufhebung eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung nach § 48 Abs 1 S 1 SGB 10 selbst dann nicht entgegen, wenn der Begünstigte seine Mitwirkungspflichten nicht verletzt hat und die Behörde die Möglichkeit hatte, im Wege der Amtsermittlung die anspruchsbegründenden Tatsachen zu ermitteln.
2. Die Verwirkung erfordert neben dem Zeit- auch ein Umstandsmoment, welches voraussetzt, dass der Begünstigte im Hinblick auf die Nichtgeltendmachung des Rechts (hier die Aufhebung der Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft) Vermögensdispositionen getroffen oder sich sonstwie darauf eingerichtet hat. Ein solches Umstandsmoment liegt im Hinblick auf den Schwerbehindertenstatus noch nicht vor, wenn der Begünstigte lediglich den Jahressteuerfreibetrag und den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen in Anspruch genommen und keinen unumkehrbaren Entschluss zur Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente getroffen hat.
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 28.02.2014 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen
Tatbestand
Streitig ist die Berechtigung des Beklagten zur Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) des Klägers.
Bei dem 1956 geborenen Kläger wurde im Juni 1992 ein malignes Teratom des rechten Hodens diagnostiziert, welches mit Entfernung des rechten Hodens und der dazu gehörigen Lymphknoten behandelt worden ist.
Der Kläger beantragte beim Versorgungsamt Ulm am 13.11.1992 die rückwirkende Feststellung eines GdB und Ausstellung eines Ausweises ab Juni 1992 auf Grund des Hodenkarzinoms und der nachfolgenden Operationen.
Das Versorgungsamt Ulm zog einen Arztbrief des Pathologen Dr. H. vom 25.06.1992, einen Operationsbericht des Krankenhauses der Vereinigten Wohltätigkeitsstiftungen N. vom 11.06.1992, Arztbriefe des Urologen Dr. E. vom 30.06.1992 und vom 18.08.1992, einen Entlassungsbericht des Zentralklinikums A. - Urologische Klinik - vom 31.07.1992 sowie den Entlassungsbericht der Klinik P. B. W. vom 10.11.1992 über die dort vom 06.10.1992 bis 10.11.1992 durchgeführte stationäre Rehabilitationsmaßnahme und einen ärztlichen Befundschein der Allgemeinmedizinerin Dr. B. bei (Bl. 3 bis 19 der Verwaltungsakte).
Nach Auswertung der vorliegenden Unterlagen wurde in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 18.01.1993 ausgeführt, auf Grund der Entfernung des rechten Hodens und der dazugehörigen Lymphknoten im Juni 1992 sei ein Gesamt-GdB von 50 seit Juni 1992 nachgewiesen. Eine Nachprüfung sei im Juni 1997 erforderlich.
Mit Bescheid vom 20.01.1993 stellte das Versorgungsamt Ulm den Grad der Behinderung mit 50 seit dem 01.06.1992 auf Grund der Entfernung des rechten Hodens und der dazugehörigen Lymphknoten fest. Der Kläger bekam einen bis zum 30.06.1997 befristeten Schwerbehindertenausweis ausgestellt (Bl. 21 u. 22 der Verwaltungsakte).
Der Kläger beantragte am 15.12.1994 die Erhöhung des GdB und trug zur Begründung vor, er sei wegen einer Knochenzyste im Bereich des Oberschenkels operiert worden.
Nach Beiziehung eines Entlassungsberichts des Zentralklinikums A. - Chirurgische Kliniken - vom 18.11.1994 führte Dr. Z. in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 30.12.1994 aus, der GdB betrage unverändert auf Grund der Entfernung des rechten Hodens und der dazugehörigen Lymphknoten 50. Die Knochenzystenoperation sei Folge einer akuten Erkrankung gewesen und rechtfertige keinen GdB. Eine Nachprüfung sei im Juni 1997 wegen Heilungsbewährung erforderlich.
Das Versorgungsamt Ulm lehnte den Neufeststellungsantrag des Klägers mit Bescheid vom 17.01.1995 mangels einer wesentlichen Verschlimmerung der f...