Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Arzneimittelversorgung. Versorgung mit Cannabisarzneimittel gemäß § 31 Abs 6 SGB 5. Beurteilung gemäß der Grundsätze evidenzbasierter Medizin. keine Berücksichtigung ausgeheilter Krankheiten

 

Leitsatz (amtlich)

1. Für die nach § 31 Abs 6 S 1 Nr 1 Buchst a SGB V erforderliche Beurteilung, ob eine dem medizinischen Standard entsprechende Leistung zur Verfügung steht, ist auf die Grundsätze zur evidenzbasierten Medizin abzustellen.

2. Die nach SGB V erforderliche begründete Einschätzung eines behandelnden Vertragsarztes ist unzureichend, wenn der Vertragsarzt auf Krankheiten abstellt, die längst ausgeheilt sind.

3. Verordnet der Arzt einem Versicherten bereits bei der ersten Konsultation eine Versorgung mit Cannabis, darf er sich zur Beurteilung der bisher durchgeführten Therapien nicht allein auf die anamnestischen Angaben des Versicherten stützen.

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 28.11.2019 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Versorgung mit Cannabinoiden in Form des Fertigarzneimittels Dronabinol nach § 31 Abs 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) streitig.

Der 1962 geborene Kläger ist bei der beklagten Krankenkasse gesetzlich krankenversichert. Bei ihm ist ein Grad der Behinderung von 50 ab 07.09.2011 festgestellt.

Der Kläger legte am 23.07.2018 der Beklagten den „Arztfragebogen zu Cannabinoiden nach § 31 Abs 6 SGB V“ des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. W. vom 19.07.2018, der zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen ist, vor. Danach solle der Wirkstoff THC, Handelsname Dronabinol, Verordnungsmenge in 30 Tagen 500 mg, Tagesdosis 3 * 5 g, Darreichungsform Tabletten zur Behandlung chronischer neuropathischer Rückenschmerzen und einer chronischen Hepatitis mit dem Ziel der Schmerzlinderung verordnet werden. Die Erkrankung sei schwerwiegend mit Beeinträchtigungen in allen Bereichen des Alltages. Daneben bestünden Depression und Hepatitis C. Der Kläger habe nichtsteroidale Antirheumatika und Tilidin (Opioid) nicht vertragen.

Die Beklagte legte dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) unter dem 27.07.2018 den Antrag zur gutachterlichen Stellungnahme vor und informierte den Kläger darüber am gleichen Tag. Der MDK gelangte am 21.08.2018 durch Dr. M. zu der Beurteilung, dass die medizinischen Voraussetzungen für die Leistung nicht erfüllt seien. Ob bei dem Kläger eine schwerwiegende Erkrankung vorliege, könne sozialmedizinisch nicht bestätigt werden. Der Vertragsarzt habe keine Behandlungsunterlagen eingereicht. Seit Jahren laufe keine Heilmitteltherapie. Bezüglich des Kreuzschmerzes seien keine Facharztbehandlung, keine Krankenhausbehandlung, keine Rehabilitation und keine Hilfsmittelversorgung im Leistungsauszug der Beklagten dokumentiert. Auch habe weder Funktionstraining noch Rehabilitationssport stattgefunden. Eine nachvollziehbare Diagnostik bezüglich des Kreuzschmerzes sei nicht dokumentiert. Somit lasse sich die hausärztlich gestellte Diagnose eines „neuropathischen Schmerzes“ nicht nachvollziehen. Diese Diagnose sei nicht gesichert. Auch sei weder dem Arztfragebogen noch dem Leistungsauszug der Beklagten eine leitliniengerechte Schmerztherapie zu entnehmen. Diese umfasse in der Regel eine Kombinationstherapie aus Antidepressiva, Antikonvulsiva, Opioiden und Topika, wobei die Dosis jeweils anfangs niedrig zu wählen und auszutarieren sei. Die dokumentierte Gabe von Tilidin 100/8 Retard sei bereits eine hohe Dosis. Ein darauf zurückzuführendes Erbrechen und Vigilanzstörungen seien durch adäquate Dosisreduktion zu beherrschen. Aus sozialmedizinischer Sicht liege eher ein unspezifischer Kreuzschmerz vor, der gemäß der nationalen Versorgungsleitlinie „Nicht spezifischer Kreuzschmerz“ zu behandeln sei.

Mit Bescheid vom 24.08.2018 lehnte die Beklagte die Verordnung für Cannabisarzneimittel auf Kassenrezept ab. Dagegen legte der Kläger am 26.09.2018 Widerspruch ein. Er legte eine Heilmittelversorgung des Facharztes für Orthopädie Dr. B. vom 04.09.2017 über sechsmal Krankengymnastik wegen der Diagnosen rezidivierende Lumbalgie, Spondylolisthesis L5/S1, Verdacht auf Spondylose L5, Chondrose L5/S1, Spondylarthrose untere Lendenwirbelsäule mit den Therapiezielen Funktionsverbesserung und Schmerzreduktion durch Verringern oder Beseitigen der Gelenkfunktionsstörung, den Bescheid des Landratsamts L. vom 31.07.2018 über die Ablehnung des Antrages auf Neufeststellung des Grades der Behinderung (Funktionsbeeinträchtigung chronische Leberentzündung ≪ Hepatitis ≫, Therapienebenwirkungen, Depressionen, Ohrgeräusche ≪Tinnitus≫, Neurodermitis, Funktionsbehinderung der Wirbelsäule), ein Attest des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. E. vom 21.09.2018 („Wirbelsäulenerkrankung, die lebenslang immer wieder zu schweren Schmerzzuständen führen kann, die langfristig Schmerztherapie notwendig macht“), einen Befundbericht des...

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