Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Vergütung stationärer Krankenhausbehandlung. Arzneimittelversorgung. Off-Label-Use. Patientenschutz

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der krankenversicherungsrechtliche Patientenschutz verdrängt den arzneimittelrechtlichen Patientenschutz nicht, tritt zu diesem vielmehr hinzu; das gilt auch für die Arzneimittelversorgung der Versicherten in der stationären Krankenhausbehandlung.

2. Arzneimittel dürfen auch in der stationären Krankenhausbehandlung nur zulassungskonform und zulassungsüberschreitend nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des Off-Label-Use angewendet werden, wobei es unerheblich ist, ob die Arzneimittelversorgung als (reine) Pharmakotherapie oder als (Teil einer) Behandlungsmethode (iS der §§ 135, 137c SGB V) stattfindet.

 

Orientierungssatz

Zu Leitsatz 2: vgl LSG Erfurt vom 25.4.2017 - L 6 KR 1870/13 = juris RdNr 22; entgegen LSG Berlin-Potsdam vom 18.3.2010 - L 9 KR 280/08 = juris RdNr 25.

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 19.05.2016 aufgehoben. Die Entscheidungsformel wird wie folgt neu gefasst:

Die Klage der Klägerin auf Zahlung eines Vergütungsbetrags von 3.510,50 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 12.07.2011 wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.

Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 3510,50 € endgültig festgesetzt.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Vergütung der Krankenhausbehandlung eines Mitglieds der Beklagten (Abrechnung des Zusatzentgelts ≪ZE≫ 2009-63 für die Anwendung von Dibotermin alfa).

Die Klägerin ist Trägerin eines zur Behandlung gesetzlich Versicherter zugelassenen Krankenhauses (§ 108 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch, SGB V). Vom 16.09.2009 bis 30.10.2009 wurde die 1926 geborene, bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte, R. N. (im Folgenden: Versicherte) im Klinikum der Klägerin (im Folgenden: D.-Klinikum) stationär behandelt. Zuvor war sie bereits vom 17.08.2009 bis 08.09.2009 stationär behandelt worden. Die erneute stationäre Krankenhausbehandlung wurde wegen stärkster Schmerzen bei Z.n. Spondylodese Th10 bis L4 und radiologischem Nachweis einer frischen Fraktur LWK5 erforderlich. Am 22.09.2009 wurde eine ventrodorsale Anschlussspondylodese L4 bis S1 mit interkorporeller Fusion L4/5 und L5/S1 und Implantation von Cages (Platzhalter für den Zwischenwirbelraum) vorgenommen.

Mit Rechnung vom 28.06.2010 forderte die Klägerin von der Beklagten für die Krankenhausbehandlung der Versicherten (vom 16.09.2009 bis 30.10.2009) nach Maßgabe der Fallpauschalenvereinbarung (FPV) für das Jahr 2009 (FPV 2009) bzw. des dieser als Bestandteil beigefügten Zusatzentgeltekatalogs (ZE-Katalog) eine Vergütung i.H.v. 19.519,63 €. Abgerechnet wurden (u.a.) die Diagnosis Related Group (DRG) I09A (bestimmte Eingriffe an der Wirbelsäule) und das ZE 2009-63; auf dieses ZE entfällt ein Rechnungsbetrag von 3.510,50 €.

In Anlage 4 der FPV 2009 (Zusatzentgeltekatalog - Liste) trägt das ZE 2009-63 die Bezeichnung: “Gabe von Dibotermin alfa, Implantation am Knochen„. In Anlage 6 der FPV-Vereinbarung 2009 (Zusatzentgeltekatalog - Definition) ist das ZE 2009-63 dem Operationen- und Prozedurenschlüssel-Kode (OPS-Kode) 6-003.4 zugeordnet. Der genannte OPS-Kode hat folgenden Wortlaut: “Applikation von Medikamenten Liste 3: Dibotermin alfa, Implantation am Knochen„.

Die Beklagte zahlte den Rechnungsbetrag zunächst vollständig, beauftragte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) aber mit einer Abrechnungsprüfung.

Im MDK-Gutachten vom 19.05.2010 führte Dr. K. aus, die erneute Krankenhausbehandlung der Versicherten sei nicht wegen Komplikationen in Zusammenhang mit Leistungen der vorausgegangenen Krankenhausbehandlung durchgeführt worden. Die stationäre Verweildauer sei aber nicht komplett medizinisch begründbar. Man hätte die Versicherte spätestens am 20.10.2009 in die stationäre geriatrische Frührehabilitation verlegen können. Die Krankenhausbehandlung sei vom 16.09.2009 bis 20.10.2009 medizinisch plausibel.

Mit Schreiben vom 25.05.2010 teilte die Beklagte der Klägerin das Ergebnis der Abrechnungsprüfung mit und forderte sie zur Rückzahlung eines Betrags i.H.v. 2.127,68 € auf.

Die Klägerin widersprach der Einschätzung des MDK, worauf die Beklagte das weitere MDK-Gutachten der Dr. K. vom 08.06.2011 erhob. Darin ist ausgeführt, die Verweildauer lasse sich unverändert nur bis 20.10.2009 medizinisch begründen. Außerdem hätte die Klägerin das ZE für die Anwendung von Dibotermin alfa nicht abrechnen dürfen. Dieses Arzneimittel sei indiziert bei Erwachsenen mit degenerativen Bandscheibenerkrankungen und einer mindestens sechsmonatigen nichtoperativen Behandlung zur anterioren Lendenwirbelfusion auf einer Ebene (L4-S1) als Ersatz für eine autologe Knochentransplantation. Laut...

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