Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. stationäre Einrichtung. Wahlrecht des Hilfeempfängers. Kostenvergleich. familiengerechte Leistung. fehlende Vereinbarung nach § 75 Abs 3 SGB 12
Orientierungssatz
1. Ein nach dem sog Mehrkostenvorbehalt des § 9 Abs 2 S 3 SGB 12 anzustellender Kostenvergleich setzt immer voraus, dass die zum Vergleich herangezogene Einrichtung zur Erreichung des Zwecks der Eingliederungshilfe in gleicher Weise geeignet ist wie die vom Leistungsberechtigten gewählte Einrichtung.
2. Der Nähe der Einrichtung zu den Wohnorten der Verwandten des Hilfeempfängers und ihre Erreichbarkeit durch diese kommt bei der Beurteilung der Angemessenheit der angebotenen Hilfe auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der familiengerechten Leistung nach § 16 SGB 12 eine entscheidende Bedeutung zu, wenn diese Verwandten die einzigen Personen sind, die sich regelmäßig um den Leistungsberechtigten kümmern und somit zu seiner Eingliederung und Teilhabe an der Gemeinschaft beitragen.
3. Steht dem Sozialhilfeträger eine eigene Einrichtung zur Hilfeleistung nicht zur Verfügung, muss er die von einem anderen Träger geltend gemachten Unterbringungskosten unabhängig davon übernehmen, ob den Grundsätzen des § 75 Abs 3 SGB 12 Rechnung getragen ist.
Tenor
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 4. Oktober 2005 wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe
Die Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet. Das Sozialgericht Potsdam hat die Antragsgegnerin zu Recht im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig vom 10. Oktober 2005 bis zu einer bestandskräftigen oder rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache stationäre Eingliederungshilfe im Wohnheim “L„ in der D Straße in B zu gewähren.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Notwendigkeit der vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) und der geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 3 SGG i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung [ZPO]).
Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch auf Übernahme der Kosten für ihre stationäre Betreuung in dem Wohnheim “L„ der E gAG in B zu einem täglichen Kostensatz von 126,35 € hinreichend glaubhaft gemacht. Dieser Anspruch folgt aus § 53 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 54 Abs. 1 Satz 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) i. V. m. § 55 Abs. 2 Nr. 6 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX).
Die Antragstellerin gehört aufgrund ihrer geistigen Behinderung unstreitig zum Personenkreis des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII. Ebenfalls zwischen den Beteiligten unstreitig hat die Antragstellerin einen Anspruch auf stationäre Eingliederungshilfe. Diese erhält sie seit Jahren von der Antragsgegnerin, zuletzt in der Wohnstätte für geistig und mehrfach behinderte Menschen des A in R zu einem Tagessatz von 87,75 €.
Die Antragstellerin hat auch einen Anspruch auf Übernahme der für ihre stationäre Betreuung in dem Wohnheim “L„ in Höhe von 126,35 € täglich anfallenden Kosten. Diesem Anspruch steht insbesondere nicht der so genannte Mehrkostenvorbehalt des § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB XII entgegen, wonach der Träger der Sozialhilfe in der Regel Wünschen des Leistungsberechtigten nicht entsprechen soll, deren Erfüllung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden wäre. Denn ein hiernach anzustellender Kostenvergleich setzt immer voraus, dass die zum Vergleich herangezogene Einrichtung zur Erreichung des Zwecks der Eingliederungshilfe in gleicher Weise geeignet ist wie die vom Leistungsberechtigten gewählte Einrichtung. Ist die kostengünstigere Einrichtung aufgrund der individuellen Lage des Hilfeempfängers zur Zweckerreichung weniger geeignet, kann sie auch nicht zum Vergleich herangezogen werden. § 9 Abs. 2 SGB XII betrifft nur das Wahlrecht des Leistungsberechtigten in Bezug auf die Gestaltung der Hilfe bei Alternativen zur Bedarfsdeckung (vgl. BVerwG, st. Rspr. zur alten Rechtslage des inhaltsgleichen § 3 Abs. 2 BSHG, BVerwGE 91, 114 ff., E 94, 127 ff., E 97, 53 ff.). Eine zur Deckung des Bedarfs der Antragstellerin gleichermaßen geeignete Alternative hat aber die Antragsgegnerin auch im Beschwerdeverfahren nicht aufzeigen können.
Die von der Antragstellerin bis zu ihrem Umzug bewohnte Einrichtung des A in R stellt keine der Antragstellerin zumutbare Alternative dar, weil schon das zerrüttete Verhältnis zwischen Heimleitung und ihren Betreuerinnen eine angemessene Betreuung dort nicht mehr erwarten lässt. Hiervon geht mittlerweile wohl auch die Antragsgegnerin aus.
Die von der Antragsgegnerin erstmals im Beschwerdeverfahren benannten Einrichtungen der H in L und...