Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. temporäre Bedarfsgemeinschaft. Erreichen der Volljährigkeit. Fortsetzung des Wechselmodells. Haushaltsangehörigkeit. Hilfebedürftigkeit. Leistungsanspruch des volljährigen Kindes. eigener Leistungsantrag. Wegfall der Antragsbefugnis des umgangsberechtigten Elternteils
Leitsatz (amtlich)
Unabhängig vom Institut der temporären Bedarfsgemeinschaft besteht bei Hilfebedürftigkeit ein Leistungsanspruch in der Bedarfsgemeinschaft für die hälftige Aufenthaltszeit, wenn unter 25jährige Erwachsene vor Erreichen der Volljährigkeit mit einem Elternteil und einem minderjährigen Geschwisterkind in temporärer Bedarfsgemeinschaft gelebt haben, wegen des Wechselmodells die Bestimmung eines Aufenthaltsschwerpunktes bei Vater oder Mutter ausscheidet und sich der oder die volljährig Gewordene entscheidet, weiterhin im Wechselmodell bei den Eltern zu leben. Der Anspruch des oder der volljährig Gewordenen stellt sich in solchen Fällen mit Erreichen der Volljährigkeit nicht als Leistung zur Ausübung des Umgangsrechts, sondern als Leistung zur eigenen Existenzsicherung dar.
Orientierungssatz
Finden die Grundsätze der umgangsrechtlich begründeten Bedarfsgemeinschaft mit Erreichen der Volljährigkeit des Kindes keine Anwendung mehr, endet auch die gesetzlich normierte Antragsbefugnis des umgangsberechtigten Elternteils.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 24. August 2023 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für die Zeit vom 1. Juli 2023 bis 31. Dezember 2023 monatlich 201,00 Euro vorläufig zu bewilligen und auszuzahlen. Im Übrigen werden der Antrag der Antragstellerin abgelehnt und die Beschwerde des Antragsgegners zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat der Antragstellerin auch für das Beschwerdeverfahren die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten um den Leistungsanspruch der Antragstellerin, die auch nach Erreichen der Volljährigkeit im wöchentlichen Wechsel bei ihrem Vater lebt.
Die im März 2005 geborene Antragstellerin und ihr im Januar 2008 geborener Bruder leben seit der Trennung ihrer Eltern vor mehreren Jahren im wöchentlichen Wechsel bei ihrer Mutter und bei ihrem Vater, die in getrennten Haushalten in Potsdam leben. Die Antragstellerin ist polizeilich mit Hauptwohnung bei ihrer Mutter gemeldet. Die Mutter geht einer Beschäftigung als Kindergärtnerin nach und bezieht bedarfsdeckendes Einkommen. Der Vater ist selbständiger Künstler, der Gewinn aus seiner Tätigkeit genügt nicht, um den eigenen Bedarf und den seiner Kinder während ihrer Aufenthaltszeiten zu decken, er bezieht seit Längerem Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom Antragsgegner. Die Antragstellerin besucht derzeit die 11. Klasse und beabsichtigt, im übernächsten Jahr das Abitur abzulegen.
Die Antragstellerin hatte vor Erreichen der Volljährigkeit gemeinsam mit ihrem Vater und ihrem Bruder Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II vom Antragsgegner bezogen. Mit Bescheid vom 3. Januar 2023 hatte der Antragsgegner vorläufig Bürgergeld bewilligt, einen Leistungsanspruch der Antragstellerin jedoch nur bis zum Tag vor ihrem 18. Geburtstag berücksichtigt. Der hiergegen erhobene Widerspruch war erfolglos geblieben, der Antragsgegner hatte ihn mit der Begründung zurückgewiesen, nur ein minderjähriges Kind getrennt lebender hilfebedürftiger Eltern könne dauerhaft beiden elterlichen Haushalten zugeordnet werden. Für die Anwendung des Instituts der temporären Bedarfsgemeinschaft bestehe mit dem Eintritt der Volljährigkeit und dem Ende des Sorge- und Umgangsrechts keine Notwendigkeit mehr. Das Sozialgericht Potsdam hatte sodann den Antragsgegner auf einen Antrag der Antragstellerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin über den 18. Geburtstag hinaus im Einzelnen bezifferte Leistungen nach dem SGB II vorläufig zu zahlen (Beschluss vom 27. April 2023 - S 31 AS 197/23 ER), da die Bedarfsgemeinschaft weiter bestehe und die Antragstellerin hilfebedürftig sei. Auf die Beschwerde des Antragsgegners hatte des Landessozialgericht Berlin-Brandenburg die Entscheidung geändert und den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz insgesamt abgelehnt (Beschluss vom 20. Juli 2023 - L 31 AS 527/23 B ER). Zur Begründung hatte der 31. Senat ausgeführt, die Antragstellerin besuche eine allgemeinbildende Schule, wofür nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) grundsätzlich Ausbildungsförderung geleistet werden könne, so dass ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II naheliege. Eine temporäre Bedarfsgemeinschaft nach dem Erreichen der Volljährigkeit könne nicht angenommen werden. Ferner ergebe sich aus § 36 SGB II, dass auf die Umstände am Ort des gewöhnlichen Aufenthalts abzustellen sei, was der Ort der Hauptwohnung bei ihrer Mutter sei. Daher könne dahingestellt bleiben, ob die Antragstelleri...