Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Rentenversicherung. Rente wegen voller Erwerbsminderung (EM). teilweiser EM bei Berufsunfähigkeit. Verweisbarkeit auf allgemeinen Arbeitsmarkt. Pflicht zur Benennung einer Verweisungstätigkeit bei Summierung von Leistungseinschränkungen. Betriebsübliche Bedingungen. Medizinische Beweiswürdigung
Orientierungssatz
1. Die Vorschriften des § 43 SGB VI und des § 240 SGB VI (vgl § 240 Abs. 1 Satz 1 SGB VI) setzen die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit (vgl §§ 50 Abs. 1, 51 Abs. 1 SGB VI) sowie das Vorhandensein von drei Jahren mit Pflichtbeiträgen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der EM bzw BU voraus (vgl § 43 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 2 und 3, Abs. 1 Satz 1 Nrn. 2 und 3 SGB VI, § 240 Abs. 1 Satz 1 SGB VI). Darüber hinaus müssen volle oder teilweise EM bzw BU vorliegen (vgl § 43 Abs. 2 Satz 2, Abs. 1 Satz 2 SGB VI, § 240 Abs. 2 SGB VI).
2. Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen, die eine Pflicht zur Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit zur Folge haben, erfordert notwendig eine Mehrheit von wenigstens zwei ungewöhnlichen Leistungseinschränkungen. Das Zusammentreffen einer - potenziell - ungewöhnlichen mit einer oder mehrerer "gewöhnlicher" Leistungseinschränkungen reicht für eine Benennungspflicht dagegen nicht aus.
3. Eine besondere Einschränkung der Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit an einen neuen, dem Ausbildungs- und Intelligenzniveau entsprechenden Arbeitsplatz kann eine spezifische schwere Leistungsbehinderung darstellen.
4. Die Wegefähigkeit ist erhalten, wenn der Kläger in der Lage ist, täglich viermal eine Fußstrecke von mehr als 500 Metern in mindestens 20 Minuten zurückzulegen und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen.
5. Ausgangspunkt der Prüfung der Berufsunfähigkeit ist nach der ständigen Rspr. des BSG der "bisherige Beruf" des Versicherten. Das ist idR die zuletzt versicherungspflichtig ausgeübte Beschäftigung.
Normenkette
SGB VI §§ 43, 240; SGG § 103
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. September 2012 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Streitig ist die Gewährung von Versichertenrente wegen voller Erwerbsminderung (EM), hilfsweise wegen teilweiser EM, hilfsweise wegen teilweiser EM bei Berufsunfähigkeit (BU).
Die 1955 in der Türkei geborene Klägerin hatte keine Berufsausbildung absolviert. Nach ihrer Übersiedlung nach Deutschland im August 1971 bis Juli 1990 war sie als Montiererin bzw Löterin bei verschiedenen Arbeitgebern versicherungspflichtig beschäftigt. Anschließend bezog sie Lohnersatzleistungen, seit 1. Januar 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II).
Die Klägerin beantragte im Januar 2010 die Gewährung von EM-Rente. Sie legte ein Attest ihrer behandelnden Ärzte für Neurologie und Psychiatrie Dres. H/B vom 15. Oktober 2009, des Chirurgen und Neurochirurgen Prof. Dr. S vom 27. November 2009 und der Chirurgen und Orthopäden Dres. T/D vom 14. Mai 2010 vor. Die Beklagte zog ein arbeitsamtsärztliches Gutachten vom 19. bzw 26. Mai 2010 (Chirurg D) bei, in dem der Klägerin ein vollschichtiges Leistungsvermögen für körperlich leichte Arbeiten attestiert worden war, und ließ die Klägerin durch die Ärztin für Innere Medizin und Sozialmedizin Dr. W untersuchen und begutachten. Diese hielt die Klägerin für täglich sechs Stunden und mehr einsetzbar in körperlich leichten Tätigkeiten mit der Möglichkeit des Haltungswechsels (Chronisches Lendenwirbelsäulensyndrom, rezidivierende depressive Episoden). Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 21. September 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Dezember 2010 den Rentenantrag ab. Volle bzw teilweise EM bzw teilweise EM bei BU würden nicht vorliegen.
Im Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) Berlin Befundberichte der behandelnden Ärzte erstatten lassen, und zwar von den Dres. H/B vom 18. Juli 2011, von der Hals-Nasen-Ohrenärztin Dr. L vom 20. Juli 2011, von dem Arzt S vom 6. August 2011 und von Prof. Dr. S vom 29. August 2011. Der Abschlussbericht des Reha-Zentrums Bstraße vom 4. April 2011 über die vom 8. März 2011 bis 4. April 2011 durchgeführte ambulante muskuloskeletale Rehabilitationsbehandlung ist beigezogen worden.
Das SG hat den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. A als Sachverständigen eingesetzt. Dieser Arzt hat in seinem Gutachten vom 15. März 2012 (Untersuchungen am 3. und 15. Februar 2012) auf seinem Fachgebiet eine anhaltend depressive Symptomatik mit Somatisierungsstörungen festgestellt. Die Klägerin könne aus nervenärztlicher Sicht noch täglich regelmäßig und vollschichtig körperlich leichte bis mittelschwere Arbeiten im Wechsel der Haltungsarten unter Beachtung der aufgezeigten weiteren qualitativen Leistungseinschränkungen sowie einfache geistige Arbeiten ausführen. ...