Entscheidungsstichwort (Thema)
Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung im Wege des einstweiligen Rechtschutzes für einen Obdachlosen Ausländer nach fünfjährigem Aufenthalt in Deutschland
Orientierungssatz
1. Nach § 7 Abs. 1 S. 2 bis 4 SGB 2 erhalten Ausländer auch ohne Aufenthaltsrecht und ohne finanzielle Absicherung ihrer Existenz nach Ablauf von fünf Jahren Aufenthalt in der BRD Leistungen der Grundsicherung, weil in einem solchen Fall von einer Verfestigung des Aufenthalts ausgegangen werden kann.
2. Die Fünfjahresfrist beginnt nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB 2 mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde. Eine höchstrichterliche Klärung der Frage, ob einem Wohnungs- bzw. Obdachlosen eine Meldepflicht nicht obliegt und ihm daher das Erfüllen der Rückausnahme i. S. des § 7 Abs. 1 S. 2, S. 4 bis 6 SGB 2 bei fehlender Anmeldung nicht möglich ist, ist bisher nicht erfolgt.
3. Die hiernach im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes gebotene Folgenabwägung führt wegen der Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums zur Gewährung von Leistungen der Grundsicherung bei beantragtem einstweiligem Rechtschutz.
Tenor
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 29. Dezember 2021 wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt auch die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im Beschwerdeverfahren.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
Gründe
Die Beschwerde des Antragsgegners ist nicht begründet. Das Sozialgericht (SG) hat den Antragsgegner zu Recht im Wege einer gerichtlichen Regelungsanordnung iSv § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit vom 13. Dezember 2021 (Eingang des Rechtsschutzantrags) bis zum 12. Juni 2022 einstweilen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in der ausgeworfenen Höhe zu gewähren.
Es liegt zunächst ein Anordnungsgrund vor, der sich bereits daraus ergibt, dass keine feststellbaren Tatsachen dafür ersichtlich sind, dass der Antragsteller über die von ihm genannten Einnahmen aus Betteln bzw Flaschensammeln hinaus das Existenzminimum sichernde Mittel zu Verfügung hatte bzw hat. Die örtliche Zuständigkeit des Antragsgegners ergibt sich aus Nr. I der Vereinbarung zwischen dem Land Berlin und der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Bundesagentur für Arbeit zur Regelung über die örtliche Zuständigkeit für wohnungslose Leistungsberechtigte nach dem SGB II in der ab 1. Juli 2019 gültigen Fassung iVm der entsprechend anwendbaren Regelung in Nr. 4 Abs. 1 und 3 der Ausführungsvorschriften über die örtliche Zuständigkeit für die Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII vom 9. Mai 2019 (AVZustSoz; Anlage 1 zur Vereinbarung). Danach ist das Jobcenter Berlin Steglitz-Zehlendorf für im Juni Geborene ohne melderechtlichen Eintrag in Berlin - wie den Antragsteller - zuständig.
Dem Antragsteller stehen für den vom SG bezeichneten Zeitraum durch eine Regelungsanordnung iSv § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zu sichernde Ansprüche auf Gewährung der bezeichneten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) in der ausgeworfenen Höhe zu. Grundlage hierfür ist im Ergebnis eine verfassungsrechtlich gebotene Folgenabwägung im Hinblick auf die im gerichtlichen Eilverfahren nicht abschließend zu klärende Frage, ob der Antragsteller einem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB I unterliegt.
Nach § 19 Abs. 1 SGB II erhalten erwerbsfähige Leistungsberechtigte Arbeitslosengeld II. Leistungsberechtigt sind nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II Personen, die (1) das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben, (2) erwerbsfähig und (3) hilfebedürftig sind und (4) ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Diese Voraussetzungen sind für den Antragsteller, einen Unionsbürger polnischer Staatsangehörigkeit, erfüllt.
§ 7 Abs. 1 Sätze 2 bis 7 SGB II in der seit 1. Januar 2021 geltenden Fassung des Gesetzes vom 9. Dezember 2020 (BGBl I 2855) lauten:
Ausgenommen sind (1) Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU) freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts, (2) Ausländerinnen und Ausländer, (a) die kein Aufenthaltsrecht haben, (b) deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen, sowie (3) Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nummer 1 gilt nicht für Ausländerinnen und Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Abweichend von Satz 2 Nummer 2 erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehöri...