Entscheidungsstichwort (Thema)
Bewilligung von Grundsicherungsleistungen für einen Unionsbürger durch einstweiligen Rechtsschutz. Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche. Franzose. Freizügigkeitsberechtigung. selbständiger Musiker. Folgenabwägung
Leitsatz (redaktionell)
1. Ob der Ausschluss von Ausländern, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, von Ansprüchen auf Grundsicherung für Arbeitssuchende auch für Bürger der Europäischen Union gilt und ob sich gleiche Ansprüche aus dem Europäischen Fürsorgeabkommen ergeben, kann nicht im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes entschieden werden.
2. Die Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit kann nicht allein mit dem Vorhandensein eines Internetauftritts bewiesen werden.
3. Lässt sich in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren, das Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts betrifft, die Sach- und Rechtslage nicht abschließend beurteilen, ist auf der Grundlage einer Folgenabwägung zu entscheiden.
4. Wenn eine vorläufige Leistung bereits zuerkannt worden ist, besteht insoweit kein Rechtsschutzbedürfnis für eine einstweilige Anordnung.
5. Für die rückwirkende Bewilligung von Geldleistungen besteht i.d.R. mangels Eilbedürftigkeit kein Anspruch auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
6. Es besteht kein Anspruch auf Prozesskostenhilfe, wenn der Verfahrensgegner zur vollständigen Kostenübernahme verpflichtet ist.
Orientierungssatz
1. Es erscheint nach wie vor problematisch, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 bei einem Unionsbürger mit Gemeinschaftsrecht vereinbar ist, wenn keine Verbindung des Unionsbürgers zum deutschen Arbeitsmarkt besteht. Die Klärung dieser Frage würde den Charakter des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens sprengen. Deshalb muss sie dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
2. In einem solchen Fall muss bei der Bewilligung von Grundsicherungsleistungen durch einstweiligen Rechtsschutz auf der Grundlage einer Folgenabwägung entschieden werden. Den existenziellen Nachteilen des Antragstellers im Falle der Ablehnung stehen auf der Seite des Leistungsträgers lediglich finanzielle Interessen gegenüber, die hinter den dem Antragsteller drohenden Nachteilen zurückzutreten haben.
Normenkette
SGG § 86 Abs. 2 S. 2, § 73a Abs. 1 S. 1; ZPO § 114 S. 1, § 920 Abs. 2; SGB II § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, S. 2 Nr. 2; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nrn. 1-2; Europäisches Fürsorgeabkommen Fassung: 2001-09-20; GG Art. 19 Abs. 4 S. 1
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 16. September 2009 aufgehoben, soweit damit der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt worden ist.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig für die Zeit ab dem 11. Januar 2010 bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens für die Dauer von sechs Monaten, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich Kosten der Unterkunft und Heizung auf der Basis eines monatlichen Grundsicherungsbedarfs von 632,53 € zu zahlen.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller dessen notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens in vollem Umfang zu erstatten.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.
Gründe
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 16. September 2009, mit der er bei verständiger Auslegung seiner Ausführungen begehrt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm vorläufig für die Zeit ab Eingang seines Antrags beim Sozialgericht (7. August 2009) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich Kosten der Unterkunft und Heizung nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II) bis zur (rechtskräftigen) Entscheidung in der Hauptsache zu zahlen, ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig, in der Sache jedoch nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der angegriffene Beschluss ist unzutreffend, soweit dem Antragsteller hiermit die ihm nunmehr zuerkannten Leistungen versagt worden sind.
Bezogen auf diese Leistungen erweist sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 86 b Abs. 2 SGG nicht nur als zulässig, sondern auch als begründet. Denn der Antragsteller hat insoweit sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht (§ 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung).
Unter Beachtung des sich aus Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) ergebenden Gebots effektiven Rechtsschutzes erweist sich die Sache bezogen auf die dem Antragsteller nunmehr zuerkannten Leistungen zunächst als eilbedürftig. Denn dem Antragsteller ist es nicht zuzumuten, eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren abzuwarten. Nach Lage der Akten verfügt er nicht ü...