Entscheidungsstichwort (Thema)

Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung an einen Unionsbürger durch einstweiligen Rechtsschutz

 

Orientierungssatz

1. Ausländische Unionsbürger haben bei einem länger als sechs Monate dauernden Aufenthalt nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 a FreizügG/EU ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche, wenn sie nachweisen können, weiterhin Arbeit zu suchen und begründete Aussicht zu haben, eingestellt zu werden.

2. Das Urteil des EuGH vom 11. November 2014 hat keine abschließende Klärung der mit dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 verbundenen europarechtlichen Fragen gebracht (Anschluss: EuGH, Urteil vom 11. November 2014, C-333/13).

3. In Fällen, in denen der um Grundsicherungsleistungen nachsuchende ausländische Unionsbürger nach einem mehr als sechs Monate dauernden Aufenthalt nicht nachweisen kann, weiterhin Arbeit zu suchen und begründete Aussicht zu haben, eingestellt zu werden, ist zwar durch das Urteil des EuGH vom 11. November 2014 geklärt, dass europarechtliche Vorgaben einem nationalen Leistungsausschluss nicht entgegenstehen. Indes stellt sich in diesen Fällen die instanzgerichtlich und in der Literatur sehr umstrittene und höchstrichterlich bislang nicht geklärte einfachrechtliche Rechtsfrage, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 in erweiternder Auslegung bzw. entsprechender Anwendung auch auf diejenigen ausländischen Unionsbürger anzuwenden ist, die sich ohne materielles Aufenthaltsrecht in Deutschland aufhalten.

4. Deshalb ist im einstweiligen Rechtsschutz in den Fällen, in denen ein Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 a FreizügG/EU oder aber kein materielles Aufenthaltsrecht besteht, auf der Grundlage einer Folgenabwägung zu entscheiden.

5. Diese fällt wegen des existenzsichernden Charakters der Leistungen des SGB 2 regelmäßig zu Gunsten des Antragstellers aus.

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 19. Dezember 2014 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für den Zeitraum vom 13. Februar 2015 bis zum 12. Mai 2015, längstens jedoch bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von monatlich 738,50 Euro (Februar und Mai 2015 anteilig) zu gewähren.

Im Übrigen wird die Beschwerde der Antragstellerin zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat der Antragstellerin deren außergerichtliche Kosten für das gesamte einstweilige Rechtsschutzverfahren zu erstatten.

Der Antrag der Antragstellerin, ihr für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Verfahrensbevollmächtigten zu bewilligen, wird abgelehnt.

 

Gründe

Die Beschwerde der Antragstellerin, die die vorläufige Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit ab dem 10. Dezember 2014 betrifft, ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang auch begründet. Denn der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erweist sich insoweit als zulässig und begründet.

Die Antragstellerin hat insoweit sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht (§ 86b Abs. 2 Satz 2 bis 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung ≪ZPO≫).

Die Antragstellerin ist erwerbsfähig und hilfebedürftig und hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland.

Hinsichtlich der Frage, ob dem Leistungsanspruch der Antragstellerin, die die polnische Staatsangehörigkeit besitzt und bei der sich ein Aufenthaltsrecht bei summarischer Prüfung allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergeben könnte (vgl. dazu die insoweit zutreffenden Gründe der angegriffenen Entscheidung, auf die der Senat gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG verweist), der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II entgegensteht, stellen sich nach wie vor in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung und der Literatur sehr umstrittene und höchstrichterlich noch nicht geklärte Rechtsfragen, deren abschließende Klärung dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muss. Dies gilt sowohl in den Fällen, in denen tatsächlich ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a Freizügigkeitsgesetz/EU in der seit dem 9. Dezember 2014 geltenden Fassung des Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften vom 2. Dezember 2014 (BGBl. I S. 1922, FreizügG/EU) besteht (dazu unter 1.), als auch in den Fällen, in denen ein solches Aufenthaltsrecht nicht besteht, weil die Antragsteller nicht nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden (dazu unter 2.).

1. Wenn ausländische Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche haben, was bei einem länger als sechs Monate dauernd...

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