Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. materielle Beweislast für Zweckmäßigkeit selbstgewählter Hörgeräte
Leitsatz (amtlich)
Zur materiellen Beweislast dafür, dass der Versicherte mit einem Festbetragsgerät gleich gut wie mit dem von ihm gewählten Gerät versorgt werden könnte.
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 11. Januar 2017 geändert: Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Antragstellerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens mit Hörgeräten Super 440 VSD WIDEX zuzahlungsfrei als Sachleistung zu versorgen.
Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin ihre außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 11. Januar 2017 ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang auch unbegründet. Die sozialgerichtliche Ablehnung des Antrags der Antragstellerin auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur zuzahlungsfreien Versorgung mit den im Tenor genannten Hörgeräten als Sachleistung ist nach dem neuen Vorbringen der Beteiligten im Beschwerdeverfahren nicht aufrechtzuerhalten.
1.) Die Antragstellerin hat für ihr Begehren im Beschwerdeverfahren einen Anordnungsanspruch mit der für das einstweilige Rechtsschutzverfahren erforderlichen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht (vgl. § 86b Abs. 2 Sätze 2 und 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung).
a) Nach § 33 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Wie in allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung der gesetzlichen Krankenversicherung auch müssen die Leistungen nach § 33 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12 Abs. 1 SGB V).
b) Da mit den Hörgeräten der Ausgleich der Behinderung erfolgen soll, indem die bei der Antragstellerin eingeschränkte Hörfähigkeit künstlich verbessert wird, hat die Prüfung des Anspruchs anhand des § 33 Abs. 1 Satz 1, dritte Alternative SGB V zu erfolgen. Im Vordergrund steht daher der Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion selbst. Bei diesem unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts. Die gesonderte Prüfung, ob ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist, entfällt, weil sich die unmittelbar auszugleichende Funktionsbeeinträchtigung selbst immer schon auf ein Grundbedürfnis bezieht; die Erhaltung bzw. Wiederherstellung einer Körperfunktion ist als solche ein Grundbedürfnis. Dabei kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist. Die Wirtschaftlichkeit eines dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dienenden Hilfsmittels ist grundsätzlich zu unterstellen und erst zu prüfen, wenn zwei tatsächlich gleichwertige, aber unterschiedlich teure Hilfsmittel zur Wahl stehen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2009, B 3 KR 2/08 R juris, dort RdNr. 18 [Badeprothese]; Urteil vom 16. September 2004, B 3 KR 20/04 R, juris, dort RdNr. 12 ff. [C-Leg], Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, 9. Senat, Urteil vom 09. März 2011, L 9 KR 152/08, juris; Beschluss vom 13. August 2014, L 9 KR 132/14 B ER, juris). Teil des von den Krankenkassen nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V geschuldeten - möglichst vollständigen - Behinderungsausgleichs ist es in diesem Sinne, hörbehinderten Menschen im Rahmen des Möglichen auch das Hören und Verstehen in größeren Räumen und bei störenden Umgebungsgeräuschen zu eröffnen und ihnen die dazu nach dem Stand der Hörgerätetechnik (§ 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V) jeweils erforderlichen Geräte zur Verfügung zu stellen (BSG, Urteil vom 24. Januar 2013 - B 3 KR 5/12 R - BSGE 113, 40-60, SozR 4-3250 § 14 Nr. 19).
c) Mit einer stattgebenden Entscheidung des Senats ist regelmäßig eine endgültige Vorwegnahme der Hauptsache verbunden, weil der von der Antragstellerin geltend gemachte Anspruch nicht nur in vollem Umfang erfüllt wird, sondern die einstweilige Versorgung für die Antragsgegnerin auch nich...