Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen eines Anspruchs auf einstweiligen Rechtsschutz. Unverhältnismäßigkeit von Sozialhilfe- Mehrkosten in besonderen Einzelfällen
Leitsatz (redaktionell)
1. Wenn das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes – jedenfalls bezogen auf einen bestimmten Zeitraum – vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht, erfordert eine Ablehnung einstweiligen Rechtsschutzes wegen Unbegründetheit der Klage, dass das Gericht die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüft.
2. Wenn die Begründetheit der Klage überwiegend wahrscheinlich ist, besteht Anspruch auf einstweiligen Rechtsschutz, falls die Folgen einer ungerechtfertigten Ablehnung des Eilantrags ungleich schwerer wögen als die Folgen einer sich im Hauptsacheverfahren nicht bestätigenden Stattgabe.
3. Der Mehrkostenvorbehalt in § 9 Abs. 2 S. 3 SGB XII verlangt eine wertende Betrachtungsweise. Zu berücksichtigen ist vor allem das Gewicht, das der vom Leistungsberechtigten gewünschten Gestaltung der Hilfe im Hinblick auf seine individuelle Notsituation beizumessen ist. Je größer die Bedarfsnähe der gewünschten Hilfegestaltung ist, um so eher kann ein Anspruch auf die Mehrkosten bestehen.
Normenkette
SGG § 86b Abs. 2 S. 2; SGB XII § 9 Abs. 2 Sätze 3, 1, § 53 Abs. 1 S. 1, § 54 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; GG Art. 2 Abs. 1
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 06. Oktober 2005 wird aufgehoben.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig, längstens bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, Eingliederungshilfe in Form der Kostenübernahme für pädagogische Maßnahmen durch den privaten mobilen Dienst Autismus im Land Brandenburg zu jeweils vier Fördereinheiten in der Woche in Höhe von insgesamt 412,86 € (inkl. Verbundsarbeit und Fahrtkosten) zu gewähren.
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die Höhe der Kosten für die dem Antragsteller vom Antragsgegner gewährte Eingliederungshilfe nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII).
Der 1992 geborene Antragsteller leidet unter frühkindlichem Autismus mit Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache sowie der motorischen Funktionen. Ferner wurden diagnostiziert: eine mittelgradige Intelligenzminderung mit Verhaltensproblemen, Verdacht auf infantile Zerebralparese, Verdacht auf Sotos-Syndrom mit Makrozephalie und Großwuchs, Akkomodationsstörung sowie schwere und durchgängige soziale Beeinträchtigungen.
Der Antragsteller erhielt zuletzt seit dem Jahr 2001 Eingliederungshilfe, zunächst vom Jugendamt, dann vom Antragsgegner, in Form einer Kostenübernahme für pädagogische Maßnahmen durch den privaten mobilen Dienst Autismus im Land Brandenburg im Umfang von vier Förderstunden je Woche. Die Kostenübernahme war zuletzt befristet bis 28. Februar 2005. Erneute Verhandlungen zwischen dem Antragsgegner und dem privaten mobilen Dienst Autismus über eine Vereinbarung hinsichtlich der Kostenhöhe sind gescheitert.
Mit Schreiben unter dem 31. Oktober 2004 beantragte der Antragsteller die Weitergewährung der Eingliederungshilfe (in Form der Kostenübernahme für die durch den privaten mobilen Dienst Autismus erbrachten Förderstunden.
Unter dem 21. Februar 2005 schloss der Antragsgegner mit dem Lebenshilfe e. V. F einen Vertrag über das Erbringen und die Abgeltung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII) und dem SGB XII für autistische Kinder. Gemäß Punkt 2.2 der Vereinbarung erfolgt die Vergütung der im Rahmen dieser Vereinbarung erbrachen Stunden nach Rechnungslegung in Höhe von 30,51 € je Stunde. Mit dem Stundensatz sind gemäß Punkt 1.3 der Vereinbarung auch die innerhalb der jeweiligen 60-minütigen Fachleistungsstunde zu erbringende so genannte Verbundarbeit, wie das Vor- und Nachbereiten, Teamberatungen etc. abgegolten. Fahrtkosten fallen nicht an, da der Lebenshilfe e. V. F regional tätig ist.
Mit Bescheid vom 23./24. März 2005 gewährte der Antragsgegner dem Antragsteller Eingliederungshilfe in Form der Kostenübernahme für pädagogische Fördermaßnahmen für die Zeit vom 01. April 2005 bis 31. März 2006 in Höhe von vier Fördereinheiten zu je 60 Minuten in der Woche mit einem Kostensatz von 30,51 € je Stunde. Im Bescheid führte der Antragsgegner u. a. aus: “… Als Leistungserbringer steht Ihnen die Lebenshilfe e. V. F zur Verfügung. Sollten Sie sich für einen anderen Leistungserbringer entscheiden, bitte ich Sie, mich davon schriftlich in Kenntnis zu setzen. Eine Verrechnung der Kosten erfolgt bis zur bewilligten Höhe direkt mit dem Leistungserbringer und dem Landkreis Oder-Spree. …„.
Hiergegen legte der Antragsteller am 6. April 2005 Widerspruch ein. Zur Begründung führte er aus, dass die gewährte Höhe der Therapiekosten bei weitem nicht angemessen sei, um die Kost...