Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausschluss von Leistungen der Grundsicherung bei einem EU-Ausländer. Aufenthaltsrecht. Selbstständige Tätigkeit. Niederlassungsfreiheit. Schwarzarbeit. Vereinbarkeit mit Europarecht. Vorlagepflicht. Bindungswirkung höchstrichterlicher Entscheidungen. Einstweilige Anordnung. Anordnungsanspruch. Glaubhaftmachung
Orientierungssatz
1. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB 2 gilt nicht für Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 AufenthG in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten.
2. Leitet der SGB 2-Antragsteller sein Aufenthaltsrecht aus einer behaupteten selbständigen Erwerbstätigkeit her, so ist darauf abzustellen, dass ein solches Aufenthaltsrecht zur Ausübung einer selbständigen Tätigkeit nur innerhalb der Rechtsordnung, d. h. nur für eine legale Tätigkeit bestehen kann. War er nicht angemeldet, hat er keine Steuern und Sozialabgaben entrichtet und damit allenfalls Schwarzarbeit geleistet, so kann er hieraus kein fortdauerndes Aufenthaltsrecht ableiten.
3. Voraussetzung für einen rechtmäßigen Aufenthalt in der Bundesrepublik von über drei Monaten ist der Nachweis ausreichender Mittel durch den Antragsteller.
Normenkette
SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, § 40 Abs. 2 Nr. 1; SGB III § 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; AufenthG § 1 Abs. 2 Nr. 1, § 60 Abs. 1; FreizügG/EU § 2 Abs. 2-3, §§ 4a, 11; AEUV Art. 49, 267 Abs. 2-3; SGG § 86b Abs. 2 S. 2
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners zu 1) wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 24. Juli 2014 geändert.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird in vollem Umfang abgelehnt.
Außergerichtliche Kosten sind für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Der 1966 geborene Antragsteller ist bulgarischer Staatsbürger mit dem Geburtsort D in Bulgarien.
Am 13. Februar 2014 beantragte er erstmalig bei dem Antragsgegner zu 1) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Bei der Antragstellung gab er im “Zusatzfragebogen Ausländer„ mit Datum vom 27. Februar 2014 als Zeitpunkt der Einreise nach Deutschland “2008„ und auf die Frage nach einer polizeilichen Anmeldung “keine polizeiliche Anmeldung„ an. Auf die Frage “Warum sind Sie hier/womit begründen Sie ihren Aufenthalt in Deutschland?„ gab der Antragsteller “Arbeitsuche„ an und auf die Frage “Waren Sie schon einmal als Arbeitnehmer oder Selbstständiger in Deutschland tätig?„ kreuzte er “Nein„ an.
Bei der Antragstellung legte der Antragsteller eine am 13. Juli 2012 ausgestellte bulgarische “Identity Card„ vor, in der als Wohnort/Aufenthaltsort (“R„) “D„ eingetragen ist. Außerdem legte der Antragsteller eine Erklärung von Herrn S G von dem Berliner Aids-Hilfe e.V. vom 21. Januar 2014 vor. In dieser Erklärung wurde angegeben, der Antragsteller lebe “seit 8 Jahren in Deutschland„ und leide an “drei chronischen Krankheiten mit zahlreichen Komplikationen„ (u.a. einer HIV- Infektion “in einem fortgeschrittenen Stadium„). Wegen des kalten Wetters baue er derzeit physisch und psychisch sehr schnell ab und befinde sich in akuter Lebensgefahr.
Des Weiteren holte der Antragsgegner zu 1) eine Auskunft des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (Meldeauskunft) vom 10. Februar 2014 ein, nach der der Antragsteller bei der Meldebehörde nicht gemeldet und dort unbekannt war. In einem in den Verwaltungsakten des Antragsgegners enthaltenen von dem Antragsteller unterschriebenen Schreiben vom 16. Januar 2014, gerichtet an den Antragsgegner zu 3, führte der Antragsteller aus, er habe sich bis zu der Räumung der Unterkunft in der E in der K Straße in Berlin Mitte aufgehalten; derzeit (16. Januar 2014) übernachte er in einem Zeltlager am Oranienburger in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg.
Mit Bescheid vom 10. März 2014 lehnte der Antragsgegner zu 1) den Antrag des Antragstellers vom 13. Februar 2014 ab. Er habe keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes, weil er ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland allein zum Zwecke der Arbeitsuche habe. Die Entscheidung beruhe auf § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II.
Gegen diesen Ablehnungsbescheid vom 10. März 2014 erhob der Antragsteller persönlich mit Schreiben vom 13. März 2014 mit der Begründung Widerspruch, in seinem Fall greife die Begründung der Ablehnung nach § 7 Absatz 1 S. 2 SGB II nicht, denn sein Anspruch ergebe sich daraus, dass er seit über acht Jahren in Deutschland lebe und zwar seit März 2006. Die ersten zwei Jahre habe er in Hamburg und die darauf folgenden in Berlin verbracht. Bis zu seiner Erkrankung sei er für seinen Lebensunterhalt allein ohne staatliche Hilfe aufgekommen. Er lebe hier, weil er als Transperson in Bulgarien der Verfolgung ausgesetzt sei. Diese Tatsachen seien durchaus bekannt und gingen insbesondere aus einer Bescheinigung des Gesundheitsamtes Kreuzberg hervor. Im Januar 2013 sei er ...