Entscheidungsstichwort (Thema)
Weitergewährung bewilligter Leistungen zur Pflege bei ärztlich nicht geklärtem Pflegebedarf durch einstweiligen Rechtsschutz
Orientierungssatz
1. Ist dem Gericht im summarischen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden.
2. Liegen die zum Umfang des erforderlichen Pflegebedarfs für eine zutreffende Entscheidung über die Höhe der Leistung zur Pflege nach §§ 19 Abs. 3, 61 SGB 12 notwendigen ärztlichen Feststellungen nicht vor, so kann der Sozialhilfeträger nicht aufgrund der Einschätzungen von Pflegekräften die Hilfe zur Pflege, welche zuvor jahrelang gewährt wurde, einstellen.
3. In einem solchen Fall können Pflegeleistungen nur dann entzogen oder reduziert werden, wenn eindeutig ist, dass sie nicht notwendig sind. Dies ist in sorgfältigen Ermittlungen durch Hinzuziehung eines ärztlichen Gutachters zu klären.
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 8. Juli 2016 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab Zugang dieses Beschlusses per Telefax, vorläufig bis zum 31. Dezember 2016, längstens jedoch bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, Hilfe zur Pflege in folgendem Umfang zu gewähren:
(LK = Leistungskomplex) |
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LK 2 (kleine Morgen/Abendtoilette): |
12 mal wöchentlich |
LK 3b (Baden): |
1 mal wöchentlich |
LK 4 (große Morgen/Abendtoilette): |
1 mal wöchentlich |
LK 7a (Darm/Blasenentleerung): |
14 mal wöchentlich |
LK 7b (Darm/Blasenentleerung): |
7 mal wöchentlich |
LK 11a (kleine Reinigung): |
2 mal wöchentlich |
LK 11b (große Reinigung): |
1 mal wöchentlich |
LK12 (Wäschepflege): |
1 mal wöchentlich |
LK 13 (Einkaufen): |
1 mal wöchentlich |
LK 14 (Mittag kochen): |
1 mal wöchentlich |
LK 15 (kleine Mahlzeit): |
20 mal wöchentlich |
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragstellerin wird für das bei dem Sozialgericht Berlin anhängig gewesene Verfahren S 195 SO 878/16 ER Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung ab dem 14. Juni 2016 bewilligt und Rechtsanwältin P beigeordnet.
Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten des gesamten einstweiligen Anordnungsverfahrens zu 9/10 zu erstatten. Kosten für das Beschwerdeverfahren L 15 SO 187/16 B ER PKH sind nicht zu erstatten.
Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren L 15 SO 183/16 B ER Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung ab dem 19. Juli 2016 bewilligt und Rechtsanwältin P beigeordnet.
Gründe
Die Antragstellerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 8. Juli 2016, mit dem dieses es abgelehnt hat, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr Hilfe zur Pflege in dem bis zum 31. März 2016 bewilligten Umfang zu gewähren.
Die zulässige Beschwerde ist zum Teil begründet. Die Antragstellerin hat Anspruch auf - vorläufige - Bewilligung von Hilfe zur Pflege in dem tenorierten Umfang für die Zeit ab der Entscheidung des Senats bis zum 31. Dezember 2016.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis statthaft, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Voraussetzung hierfür ist regelmäßig, dass sowohl ein Anordnungsanspruch, d.h. ein materieller Leistungsanspruch, als auch ein Anordnungsgrund, d.h. eine Eilbedürftigkeit, gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft gemacht ist.
Der Antragstellerin sind (höhere) Leistungen zur Pflege (§§ 19 Abs. 3, 61 Sozialgesetzbuch/Zwölftes Buch - SGB XII -) auf Grund einer Folgenabwägung zu bewilligen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seiner Entscheidung vom 12. Mai 2005 (Az. 1 BvR 569/05, dokumentiert in juris, weitere Fundstelle NVwZ 2005, 927 bis 929) ausgeführt, dass Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens stellt, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen könnten, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären“ (BVerfG, a.a.O., juris Rn. 24). Das BVerfG führt weiter aus: „Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern“ (vgl. BVerfG, a.a.O., juris Rn. 26).
Die Folgenabwägung im vorlieg...