Entscheidungsstichwort (Thema)
Verpflichtung des Sozialhilfeträgers zu Leistungen der Pflege für einen Hilfebedürftigen durch einstweiligen Rechtsschutz
Orientierungssatz
1. Der Sozialhilfeträger kann durch einstweiligen Rechtsschutz im Rahmen der Folgenabwägung zur Gewährung von Leistungen der Pflege nach §§ 19 Abs. 3, 61 SGB 12 verpflichtet werden.
2. Einstweiliger Rechtsschutz ist aufgrund einer Folgenabwägung auch dann zu gewähren, wenn zur Einschätzung des Pflegebedarfs bei einem an Krebs erkrankten Hilfebedürftigen im Hauptsacheverfahren ein ärztliches Gutachten erforderlich ist.
Normenkette
SGB XII § 19 Abs. 3, § 61; SGG § 86a Abs. 1 S. 1, § 86b Abs. 2 Sätze 2, 4, § 96 Abs. 1; ZPO § 920 Abs. 2; SGB XI §§ 75, 89, 114 Abs. 1; SGB X § 32
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 6. Oktober 2016 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab Zugang dieses Beschlusses per Telefax vorläufig bis zum 31. Mai 2017, längstens jedoch bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, Hilfe zur Pflege über den mit Bescheid vom 25. Oktober 2016 gewährten Umfang hinaus in folgendem Umfang zu gewähren:
(LK = Leistungskomplex) |
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LK 9 (Begleitung außer Haus): |
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3 mal monatlich gegen Nachweis |
LK 11a (kleine Reinigung): |
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3 mal wöchentlich |
LK 13 (Einkaufen): |
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1 mal wöchentlich (insgesamt 2 mal wöchentlich) |
LK 14 (warme Mahlzeit kochen): |
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3 mal wöchentlich |
Die Pflege kann auch, solange die Nebenbestimmung in dem Bescheid des Antragsgegners vom 25. Oktober 2016, die Pflegeleistungen dürften nicht durch den Pflegedienst “M GmbH„ erbracht werden, nicht bestandskräftig ist, durch diesen Pflegedienst erbracht werden.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.
Gründe
Die Antragstellerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 6. Oktober 2016, mit dem dieses es abgelehnt hat, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr Hilfe zur Pflege zu bewilligen, und zwar in dem bis zum 30. November 2015 bewilligten Umfang.
Die zulässige Beschwerde ist begründet. Die Antragstellerin hat Anspruch auf - vorläufige - Bewilligung von Hilfe zur Pflege in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang für die Zeit ab der Entscheidung des Senats bis zum 31. Mai 2017.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis statthaft, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Voraussetzung hierfür ist regelmäßig, dass sowohl ein Anordnungsanspruch, d.h. ein materieller Leistungsanspruch, als auch ein Anordnungsgrund, d.h. eine Eilbedürftigkeit, gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft gemacht ist.
Der Antragstellerin sind Leistungen zur Pflege (§§ 19 Abs. 3, 61 Sozialgesetzbuch/Zwölftes Buch - SGB XII -) über das mit Bescheid vom 25. Oktober 2016 nunmehr gewährte Maß hinaus auf Grund einer Folgenabwägung zu bewilligen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seiner Entscheidung vom 12. Mai 2005 (Az. 1 BvR 569/05, dokumentiert in juris, weitere Fundstelle NVwZ 2005, 927 bis 929) ausgeführt, dass Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens stellt, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen könnten, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären„ (BVerfG, a.a.O., juris Rn. 24). Das BVerfG führt weiter aus: “Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern„ (vgl. BVerfG, a.a.O., juris Rn. 26).
Die Folgenabwägung im vorliegenden Fall geht zu Gunsten der Antragstellerin aus. Die Nachteile, die ihr entstünden, wenn sie für einen längeren Zeitraum ohne die notwendigen Pflegeleistungen leben müsste, sind sehr viel gravierender als die Nachteile der öffentlichen Hand, die rein fiskalischer Natur sind und die entstehen, wenn der Antragstellerin die Leistungen zur Pflege tatsächlich nicht zustehen.
Die Aufklärung des Sachverhaltes ist dem Senat im einstweiligen Rechtsschutzverfahren in vertretbarer Zeit nicht möglich. Es dürften Ermittlungen, insbesondere die Einholung eines ärztlichen Sachve...