Entscheidungsstichwort (Thema)
Verordnung eines nicht zugelassenen Arzneimittels zur Behandlung einer lebensbedrohlichen Erkrankung durch einstweiligen Rechtsschutz
Orientierungssatz
1. Der Versicherte hat ausnahmsweise Anspruch auf Versorgung mit einem nicht zugelassenen Arzneimittel, wenn er an einer lebensbedrohlichen Erkrankung leidet, eine allgemein anerkannte Behandlung nicht zur Verfügung steht und zumindest eine nicht ganz fern liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.
2. Drohen dem Versicherten ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare Nachteile, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre, so ist dem Antragsteller einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren.
Tenor
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, ab sofort bis zum Ergehen einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 30. November 2016, die Kosten für eine Versorgung des Antragstellers mit dem Arzneimittel Fampyra nach ärztliche Verordnung zu übernehmen. Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für dieses Eilverfahren zu tragen.
Gründe
I.
Der 1991 geborene, bei der Antragsgegnerin krankenversicherte, Antragsteller leidet an einer molekulargenetisch gesicherten episodischen Ataxie Typ II. Dabei handelt es sich um eine seltene neurogenetische Erkrankung.
Seit einem stationären Aufenthalt im Jahr 2012 wird der Antragsteller mit dem Arzneimittel Fampyra® (Wirkstoff 4-Aminopyridin [=Fampridin] in Retardform) behandelt. Das Medikament ist nur zur Behandlung von Gehbehinderungen bei fortgeschrittener Multipler Sklerose zugelassen.
Das Sozialgericht Berlin hat die im August 2013 erhobene Klage auf Aufhebung des eine Kostenübernahme ablehnenden Bescheides vom 26. Februar 2013 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 13. August 2013 und Versorgung mit dem Arzneimittel mit Urteil vom 15. Juli 2015 (Az. zuletzt: S 28 KR 1374/15). Hiergegen hat der Kläger Berufung erhoben (Az. LSG Berlin-Brandenburg L 1 KR 350/15 ) und gleichzeitig einen Eilantrag gestellt.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 15. Oktober 2015 ist zulässig. Ihm steht nicht die Rechtskraft des ablehnenden Beschlusses des Sozialgerichts vom 15. Mai 2013 (Sozialgericht Berlin S 28 KR 241/13 ER, bestätigt durch Beschluss des hiesigen Gerichts vom 26. August 2013 -L 9 KR 169/13 B ER) entgegen. Er kann sich auf den Vortrag einer veränderte Sachlage stützen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. A. 2014, § 86b Rdnr. 45a mit Nachweisen). Nach seinem durch Atteste der Behandler gestützten Vortrag führt das Absetzen von Fampyra zu schweren Episoden der Ataxie mit hoher Sturzgefahr und der lebensbedrohlichen Gefahr der Exsikkose. Demgegenüber war stand im ersten Verfahren primär eine Beeinträchtigung der Lebensqualität durch häufige Schwindelepisoden im Fokus.
Der Antrag hat in der Sache auch Erfolg.
Nach § 86b Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung zulässig, wenn anderenfalls die Gefahr besteht, dass ein Recht des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (sog. Regelungsanordnung).
Voraussetzung sind das Bestehen eines Anordnungsanspruches und das Vorliegen eines Anordnungsgrundes.
Der Anordnungsanspruch bezieht sich dabei auf den geltend gemachten materiellen Anspruch, für den vorläufiger Rechtschutz begehrt wird. Die erforderliche Dringlichkeit betrifft den Anordnungsgrund. Die Tatsachen, die den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch begründen sollen, sind darzulegen und glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 S. 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Entscheidungen dürfen dabei grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Drohen ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, dürfen sich die Gerichte nur an den Erfolgsaussichten orientieren, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (ständige Rechtsprechung des Senats, siehe auch Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 596/05 - ).
Hier ist es dem Senat im Eilverfahren aufgrund der dort alleine möglichen summarischen Prüfung nicht möglich, zu klären, ob der Antragsteller einen Anspruch auf Versorgung mit dem begehrten Arzneimittel...