Entscheidungsstichwort (Thema)
Unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung. Zustellung und Bekanntgabe von Verwaltungsakten. Regress wegen Richtgrößenüberschreitung. Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage. Gefährdung der Existenz einer Praxis. unzumutbare Härte bei Vollziehung. Erfolgsaussichten der Klage. Widerspruchsfrist
Leitsatz (redaktionell)
1. Richtet sich der Beginn der Widerspruchsfrist nach dem Datum der förmlichen Zustellung des Bescheids, darf die Behörde in der Rechtsbehelfsbelehrung nicht angeben, der Widerspruch sei innerhalb eines Monats nach “Bekanntgabe” des Bescheids einzulegen. Tut sie es dennoch, verlängert sich die Widerspruchsfrist wegen der falschen Rechtsbehelfsbelehrung auf ein Jahr.
2. Ist durch die Vollziehung von Regressbescheiden die Existenz einer vertragsärztlichen Praxis gefährdet, liegt eine unbillige Härte i.S.v. § 86a Abs. 3 S. 2 SGG vor. Zu berücksichtigen ist dabei die Summe aller noch nicht bestandskräftigen Regressforderungen.
Normenkette
GG Art. 12; SGB V § 106 Abs. 5 S. 5, Abs. 5a S. 11; SGB X § 65 Abs. 2; VwZG § 4; SGG § 66 Abs. 2 S. 1, § 84 Abs. 1, § 86a Abs. 2 Nr. 4, Abs. 3 S. 2, § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 10. September 2009 aufgehoben und die aufschiebende Wirkung der Klage (AZ: S 83 KA 43/09) gegen den Beschluss des Antragsgegners vom 11. Dezember 2008 angeordnet.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen.
Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird auf 113.268,93 € festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen den Beschluss des Antragsgegners vom 11. Dezember 2008.
Die Antragstellerin nimmt als Fachärztin für Innere Medizin an der vertragsärztlichen Versorgung in Berlin-Kreuzberg teil. Mit zwei Beschlüssen vom 7. August 2007 setzte der Prüfungsausschuss für die Wirtschaftlichkeitsprüfung in der vertragsärztlichen Versorgung im Land Berlin im Rahmen der Richtgrößenprüfung gemäß § 106 Abs. 5a des Sozialgesetzbuchs/Fünftes Buch (SGB V) eine Ersatzverpflichtung für das Kalenderjahr 2003 in Höhe von 141.197,33 € und für das Kalenderjahr 2004 in Höhe von 85.340,53 € fest. Die schriftlichen Ausfertigungen der Beschlüsse sind am 20. September 2007 per Übergabeeinschreiben bei der Deutschen Post AG aufgegeben worden.
Mit einem an den Prüfungsausschuss gerichteten Schreiben vom 29. Juli 2008, dort eingegangen am 30. Juli 2008, teilte die Antragstellerin mit, durch Schreiben der Beigeladenen zu 1) - Rechnungswesen - vom 14. Juli 2007, das sie wegen Urlaubs erst am 20. Juli 2007 zur Kenntnis genommen habe, habe sie erfahren, dass ihr Honorarkonto mit den Regressbeträgen für die Richtgrößenprüfungen der Jahre 2003 und 2004 belastet worden sei. Sie habe jedoch am “4.10.2008„ fristgerecht Widerspruch erhoben. Ihre Tochter V I, von deren zuverlässiger Arbeit sie sich regelmäßig überzeuge, sei mit der Anfertigung des Widerspruchs betraut gewesen.
Diese habe ihn am 4. Oktober 2007 formuliert und habe ihn ihr zur Unterschrift vorgelegt und es nach bestem Wissen und Gewissen mit der restlichen Post am 4. Oktober 2007 abgeschickt. Sie sei von einem fristgerecht eingereichten Widerspruch ausgegangen und beantrage daher Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Der Beschwerdeausschuss wies den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sowie den Widerspruch mit Beschluss vom 11. Dezember 2008 zurück. Er führte aus, die Beschlüsse des Prüfungsausschusses seien bestandskräftig geworden; Gründe für eine Wiedereinsetzung lägen nicht vor.
Hiergegen richtet sich die am 19. Januar 2009 zum Aktenzeichen S 83 KA 43/09 erhobene Klage, über die bisher nicht entschieden ist.
Einen im Juli 2009 gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage vom 19. Januar 2009 lehnte das Sozialgericht Berlin mit Beschluss vom 10. September 2009 ab. Zur Begründung führte es aus, an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides des Beschwerdeausschusses bestünden keine ernsthaften Zweifel, da die Bescheide des Prüfungsausschusses bestandskräftig geworden seien. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne nicht gewährt werden, da die Antragstellerin zum einen die versäumte Verfahrenshandlung nicht fristgerecht nachgeholt habe und zum anderen, weil sie nicht unverschuldet an der Einlegung des Widerspruchs gehindert gewesen sei.
Mit ihrer Beschwerde gegen diesen Beschluss trägt sie näher zu den Umständen der geltend gemachten Versendung des Schreibens vom 4. Oktober 2007 vor. Weiterhin sei die Rechtsbehelfsbelehrung unrichtig gewesen, weil diese den Zusatz enthalten habe, dass gebeten werde, den Widerspruch zu begründen und in fünffacher Ausfertigung einzureichen. Die Vollziehung der Regressbescheide führe zu einer unzumutbaren Härte. Die Beigeladene zu 1) habe die Abschlagszahlungen auf die Quartalsabrechnungen der Antragstellerin von 8.500,- € auf 4.000,- € g...