Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweiliger Rechtsschutz. Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes. Arbeitslosengeld II. Übernahme von Mietschulden wegen drohender Wohnungslosigkeit durch Räumungsklage. Darlehensgewährung
Leitsatz (amtlich)
1. Für die Prüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen von § 22 Abs 8 SGB II ist es ohne Bedeutung, ob wirtschaftlich unvernünftiges (vorwerfbares) Handeln des Hilfebedürftigen die drohende Wohnungslosigkeit (mit)verursacht haben mag (Anschluss an BSG vom 17.6.2010 - B 14 AS 58/09 R = BSGE 106, 190 = SozR 4-4200 § 22 Nr 41).
2. Allein der Umstand, dass die Amtsgerichte nach § 22 Abs 9 SGB II zur Information der Grundsicherungsträger verpflichtet sind, verhindert noch keine Wohnungslosigkeit. In Verfahren auf Übernahme von Mietschulden nach § 22 Abs 8 SGB II ist der Hinweis auf § 22 Abs 9 SGB II regelmäßig verfehlt, weil eine Bereitschaft des ggf zu informierenden Grundsicherungsträgers, Mietschulden zu übernehmen, offenkundig nicht besteht.
3. Die Vorlage aktueller Kontoauszüge zur Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes ist in der Regel nicht erforderlich, wenn die Antragsteller aktuell im Leistungsbezug stehen.
4. Dass Kläger / Antragsteller einer Weitergabe ihrer beim Sozialgericht eingereichten Kontoauszüge an den Beklagten / Antragsgegner widersprechen, ist irrelevant, wenn dieser ohnehin regelmäßig Einsicht in die Kontoauszüge erhält.
5. Ein Amtsvormund, der Unterhalt nicht an sein Mündel weiterleitet und es hierdurch der Gefahr der Obdachlosigkeit aussetzt, handelt pflichtwidrig.
Normenkette
SGB II § 22 Abs. 8 S. 4, Abs. 9, § 42a Abs. 1 S. 2; BGB § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, § 569 Abs. 3 Nr. 2, § 1793 Abs. 1a, 3 S. 1; SGG § 86b Abs. 2
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 31. August 2016 geändert.
Der Antragsgegner wird vorläufig verpflichtet, der Antragstellerin zur Tilgung der entstandenen Mietschulden ein Darlehen in Höhe von 1365,42 € durch Überweisung unmittelbar an den Vermieter zu gewähren.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller für beide Rechtszüge zu tragen.
Gründe
Die nach §§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde der Antragsteller mit dem sinngemäßen Antrag,
den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 31. August 2016 aufzuheben und den Antragsgegner vorläufig zu verpflichten, zur Tilgung der entstandenen Mietschulden 1.412,95 € an die Antragsteller zu zahlen,
hat weitgehend Erfolg. Insoweit sind der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG erforderliche Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund gegeben. Im darüber hinaus gehenden Umfang hat das Sozialgericht den Eilantrag zu Recht abgelehnt.
1. Rechtsgrundlage für die von den Antragstellern begehrte (vorläufige) Übernahme von Mietrückständen ist § 22 Abs. 8 Sozialgesetzbuch / Zweites Buch (SGB II). Danach gilt:
“Sofern Arbeitslosengeld II für den Bedarf für Unterkunft und Heizung erbracht wird, können auch Schulden übernommen werden, soweit dies zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt ist. Sie sollen übernommen werden, wenn dies gerechtfertigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht. Vermögen nach § 12 Absatz 2 Satz 1 Nummer 1 ist vorrangig einzusetzen. Geldleistungen sollen als Darlehen erbracht werden.„
2. Die Antragsteller beziehen Arbeitslosengeld II, das auch ihre (angemessenen) Kosten der Unterkunft (KdU) abdeckt. Sie befinden sich hinsichtlich ihrer Wohnung in einer Notlage, nachdem die Vermieterin das Mietverhältnis gemäß § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) wegen eines - zwei Monatsmieten übersteigenden - Mietrückstandes von (damals) 1.412,95 € fristlos gekündigt (Schreiben vom 22. August 2016) und am 22. November 2016 Räumungsklage erhoben hat. Aufgrund dessen droht ihnen Wohnungslosigkeit. Dass für die Antragsteller eine konkrete angemessene und anmietbare Ersatzwohnung zur Verfügung steht (zu diesem Kriterium: BSG, Urteil vom 17. Juni 2010 - B 14 AS 58/09 R -; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17. September 2013 - L 19 AS 1501/13 B -; juris), ist weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich. Gleiches gilt für sonstige Selbsthilfemöglichkeiten. Das Darlehen an die Antragstellerin ist auch gerechtfertigt, denn es ist geeignet, die Unterkunft zu sichern. Gemäß § 569 Abs. 3 Nr. 2 BGB wird eine auf § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BGB gestützte Kündigung auch dann unwirksam, wenn - wie hier - der Vermieter spätestens bis zum Ablauf von zwei Monaten nach Eintritt der Rechtshängigkeit des Räumungsanspruchs hinsichtlich der fälligen Miete befriedigt wird. Notwendig ist die Schuldenübernahme u.a. dann, wenn - wie hier in Gestalt des 2002 geborenen Antragstellers - (schulpflichtige) Kinder betroffen sind (Krauß, a.a.O., Rd. 355; zur gebotenen Berücksichtigung von Kindern in der Bedarfsgemeinschaft s.a. Landessozialgericht f...