Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Wie-Berufskrankheit. neue Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft. Gruppentypik. epidemiologische Erkenntnisse. Beweisanforderungen. Beweiserleichterung. Erkrankung der Halswirbelsäule. Berufsmusiker. Streichinstrument
Leitsatz (amtlich)
1. Zur Anerkennung einer HWS-Erkrankung/Schultererkrankung als sogenannte Wie - oder Quasi-BK nach § 9 Abs 2 SGB 7.
2. In bestimmten Fällen kann für die Anerkennung einer Quasi-BK auf den epidemiologisch-statistischen Nachweis einer Gruppentypik verzichtet werden. Dies setzt aber voraus, dass ausreichend andere Beweismittel zur Verfügung stehen.
3. Eine Beweiserleichterung - in welcher Form auch immer - für die Fallgestaltung, dass die Gruppe der beruflich Betroffenen so klein ist, dass aussagekräftige wissenschaftlich-epidemiologische Erkenntnisse auch in Zukunft nicht erwartet werden können, ist im Gesetz weder vorgesehen noch angelegt noch aus rechtsstaatlichen Gründen geboten.
4. Vor dem Hintergrund, dass der Gesetzgeber sich für ein Listenprinzip entschieden hat, ist es für die Anerkennung einer Quasi-BK nicht ausreichend, dass aufgrund medizinischer Beweiserhebung im Einzelfall festgestellt werden kann, dass die Erkrankung des Versicherten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch berufliche Einwirkungen verursacht worden ist.
Orientierungssatz
Die aus § 9 Abs 1 SGB 7 ableitbaren allgemeinen Voraussetzungen für das Tatbestandsmerkmal "Bezeichnung einer Krankheit als Berufskrankheit" werden ua durch die Begriffe "Gruppentypik", "generelle Geeignetheit", "gruppentypische Risikoerhöhung" oder "gruppenspezifische Risikoerhöhung" näher bezeichnet. Mit diesen unterschiedlichen Begrifflichkeiten werden aber keine unterschiedlichen Anforderungen aufgestellt.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 23. September 2010 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Umstritten ist die Feststellung der Halswirbelsäulen- (HWS) Erkrankung des Klägers als Wie-Berufskrankheit (Wie-BK) nach § 9 Abs. 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) aufgrund seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Violinist.
Für den 1930 geborenen Kläger erstattete der Facharzt für Orthopädie Dr. E unter dem 19. Dezember 2002 eine ärztliche Anzeige wegen des Verdachtes einer BK. Er leide unter rezidivierenden Zervikobrachialgien, zunehmender Schmerzsymptomatik der HWS sowie des linken Schultergelenkes. Der Kläger habe seit seinem siebten Lebensjahr Violine gespielt. Daraus resultierten eine jahrzehntelange Zwangshaltung der Wirbelsäule und eine Überbelastung der Schultergelenke. Im Rahmen des Feststellungsverfahrens auf Anerkennung dieser Erkrankung als Listen-BK eröffnete die Beklagte im Oktober 2005 ein Feststellungsverfahren im Hinblick auf die vorliegend streitige Wie-BK.
Zu seinem beruflichen Werdegang gab der Kläger an, von Februar 1946 bis September 1949 Musik studiert und nach Abschluss des Studiums von August 1949 bis Dezember 1952 als Violinist im SW gearbeitet zu haben. Daran habe sich von 1953 bis 1961 eine Tätigkeit als Violinist beim S angeschlossen. Vom 01. Dezember 1991 bis zum 31. März 1995 sei er als Violinist bei der D beschäftigt gewesen.
In der Arbeitgeberauskunft der S vom 21. Oktober 2003 bestätigte diese, dass der Kläger vom 01. Oktober 1961 bis 31. März 1995 im Arbeitsbereich Staatskapelle als Violinist beschäftigt gewesen sei. Der Tag der letzten gefährdenden Tätigkeit sei der 18. August 1993 gewesen. Das Arbeitsverhältnis sei durch Auflösungsvertrag zum 31. März 1995 beendet worden.
Der Kläger war seit Juli 1993 berufsunfähig, weil er sich einen Strecksehnenabriss des linken Kleinfingerendgelenkes zugezogen hatte, als er versuchte, sein Fahrrad zu reparieren.
Im “Ersten Untersuchungsbefund„ führte Prof. Dr. S unter dem 18. November 2003 aus, dass den beigezogenen medizinischen Unterlagen (z. B. Sozialversicherungsausweis, unfallärztliche Bescheinigung des Dr. P vom 20. Juni 1995) zu entnehmen sei, dass der Kläger erstmalig 1973 über Halswirbelsäulenbeschwerden geklagt habe. An einer überbeanspruchenden Belastung durch den Beruf sei nicht zu zweifeln. Soweit die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen vorlägen, sei deshalb eine orthopädische Fachbegutachtung zu empfehlen. Es sei allerdings darauf hinzuweisen, dass der offensichtlich hoch qualifizierte Künstler zu keinem Zeitpunkt bereit gewesen sei, seine berufliche Tätigkeit wegen der chronischen Erkrankungen des Skelettsystems vorwiegend im Bereich der HWS aufzugeben. Hierdurch sei er erst im Jahre 1993 durch die Verletzung des Kleinfingers gezwungen gewesen.
Nach Einholung einer Stellungnahme der Gewerbeärztin M vom 21. April 2006 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 01. Juni 2006 die Anerkennung der seit Jahren auftretenden Zervikalsyndrome als Wie-BK nach § 9 Abs. 2 SGB VII ab. Eine Ents...