Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewaltopferentschädigung. Härteregelung nach § 10a OEG. Sexueller Missbrauch durch den Vater. psychische Störung. Schwerbeschädigung. Vorschaden. Nachschaden
Orientierungssatz
Zum Anspruch auf Versorgungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen der Folgen einer vor Inkrafttreten des OEG erlittenen Schädigung (hier: psychische Störung infolge sexuellen Missbrauchs durch den Vater in der ehemaligen DDR im Zeitraum von 1960 bis 1964).
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 18. Dezember 2007 aufgehoben.
Der Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 18. Dezember 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. November 2001 verpflichtet, der Klägerin auf ihren Antrag vom 8. September 1999 unter Zugrundelegung eines Grades der Schädigungsfolgen von 50 Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz für die durch den sexuellen Missbrauch in den Jahren 1960 bis 1964 verursachte depressive Persönlichkeitsstörung zu gewähren.
Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob der Klägerin Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu gewähren ist.
Die 1953 in der DDR geborene Klägerin wuchs gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester bei ihren Eltern in M auf. Von 1960 bis 1964 wurde sie von ihrem Vater sexuell missbraucht. Wegen dieser Straftat wurde der Vater 1970 zu zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt.
Am 8. September 1999 stellte die Klägerin bei dem Versorgungsamt Berlin - neben einem Schwerbehindertenantrag- einen Antrag auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG, der zuständigkeitshalber an den Beklagten weitergeleitet wurde. Sie machte hierbei psychische Störungen (Neurose, Angstzustände), hormonelle Störungen (drei Fehlgeburten, Hysterektomie) und funktionell vegetative Störungen (Hypertonus, Tachykardien, Herzrhythmusstörungen) geltend.
Im Wege der Amtshilfe erstattete die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. W das psychiatrisch-neurologische Gutachten vom 20. Juni 2000. Das Gesamtbild des bei der Klägerin vorliegenden seelischen Leidens mit psychosomatischen Beschwerden, Angstsymptomatik und depressiven Anteilen sei in den Bereich der schweren Störungen einzuordnen und bedinge einen Grad der Behinderung (GdB) von 50. Schädigungsbedingt sei jedoch lediglich von einem Schädigungsanteil mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v.H. auszugehen. Denn die Klägerin sei schon vor dem Missbrauch durch eine pathologische Familiendynamik mit Gewalt und inkonsistentem, widersprüchlichen mütterlichen Zuwendungsverhalten entscheidend geprägt worden, wodurch eine Basis für eine frühe Störung, d.h. zu einem strukturellen Defizit, gelegt worden sei. Durch den jahrelangen sexuellen Missbrauch sei die Persönlichkeitsentwicklung, die bereits im Sinne eines Vorschadens pathologisch gewesen sei, weiter schwerwiegend beeinträchtigt worden. Eine Anerkennung der gestörten Persönlichkeit als Schädigungsfolge sei deshalb nur im Sinne einer Verschlimmerung möglich.
In der prüfärztlichen Stellungnahme vom 27. November 2000 schlug die Dipl.-Med. Kr eine MdE von 10 v.H. vor: Bei der Fülle der auch erheblich psychisch irritierenden Verschädigung und der weiteren exogenen schädigungsunabhängigen Faktoren (des durch die Mutter initiierten Schwangerschaftsabbruchs mit 17 Jahren, der Familienkonflikte und der Finanzprobleme) sei der Verschlimmerungsanteil einer MdE von 30 v.H. eindeutig zu hoch bemessen.
Ferner veranlasste der Beklagte das versorgungsärztliche Gutachten nach Aktenlage der Dipl.-Med. Ke vom 11. Dezember 2000, die zu dem Ergebnis kam, dass die bei der Klägerin auf gynäkologischem und internistischem Fachgebiet bestehenden Gesundheitsstörungen in keinem ursächlichen Zusammenhang zu dem sexuellen Missbrauch ständen.
Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 18. Dezember 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. November 2001 den Antrag auf Beschädigtenversorgung ab: Zweifellos sei die Klägerin Opfer einer Gewalttat geworden, jedoch hätten sich die Vorfälle bereits 1960 bis 1964 ereignet. Eine Versorgung über die Härtefallregelung des § 10a OEG sei nicht möglich, da die Schädigungsfolgen eine MdE unter 50 v.H. bedingten.
Mit ihrer Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat die Klägerin Versorgung nach dem OEG unter Zugrundelegung einer MdE von mindestens 50 begehrt. Nach Einholung eines Befundberichts der die Klägerin behandelnden Psychiaterin Dr. A vom 2. Juli 2004 hat das Sozialgericht die Klage mit Gerichtsbescheid vom 18. Dezember 2007 als unbegründet abgewiesen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt, dass nach dem überzeugenden Gutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. W der auf der Gewalt...