Entscheidungsstichwort (Thema)

Anspruch des österreichischen Staatsangehörigen mit gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland auf Leistungen der Grundsicherung

 

Orientierungssatz

1. Nach Art. 2 Abs. 1 des Deutsch-Österreichischen Fürsorgeabkommens (DÖFA) wird Staatsangehörigen der einen Vertragspartei, die sich im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei aufhalten, Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege in gleicher Weise und unter den gleichen Bedingungen wie den Staatsangehörigen des Aufenthaltsstaates gewährt.

2. Bei der Regelleistung nach dem SGB 2 handelt es sich um Fürsorge i. S. von Art. 1 EFA. Nach jenem Abkommen meint Fürsorge jede Fürsorge, die jeder der Vertragschließenden nach den in dem jeweiligen Teil seines Gebietes geltenden Rechtsvorschriften gewährt. Die Regelleistung nach dem SGB 2 stellt in jedem Fall der Bedürftigkeit ein zu gewährendes Mittel für den Lebensbedarf dar (BSG Urteil vom 19. 10. 2010, B 14 AS 23/10 R). Damit sind hilfebedürftige österreichische Staatsangehörige, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben, von Leistungen des SGB 2 nicht ausgeschlossen.

 

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. August 2019 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers im gesamten Verfahren.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld II - Alg II) für die Zeit vom 1. Februar 2019 bis 31. Juli 2019.

Der 1963 geborene, österreichische und seinerzeit alleinstehende sowie wohnungslose Kläger reiste seinen Angaben zufolge am 28. Mai 2012 in die Bundesrepublik Deutschland zur Arbeitsuche ein. Vom 31. Mai 2012 bis 5. Juli 2013 war er in Berlin Neukölln bei Frau L V gemeldet. Er habe sich von Mitte November 2012 bis Anfang Mai 2017 in der Wohnung von Frau G S in B kostenfrei aufgehalten. Seit dem 4. Februar 2019 war er im Wohnheim „D “ in B angemeldet. Mit seinem Antrag vom 18. Februar 2019 gab er gegenüber dem Beklagten an, in den vergangenen Monaten vom Flaschensammeln und Betteln gelebt zu haben und im Übrigen mittellos und ohne Beschäftigung zu sein.

Der Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, der Kläger sei von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen. Ein Daueraufenthaltsrecht sei nicht nachgewiesen (Bescheid vom 21. Februar 2019, Widerspruchsbescheid vom 3. März 2019).

Das Sozialgericht Berlin (SG) hat den Beklagten mit Beschluss vom 3. April 2019 im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Kläger ab dem 22. März 2019 längstens bis zum 31. Juli 2019 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren (S 142 AS 2983/19 ER; Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 20. Mai 2019 - L 31 AS 627/19 B ER -).

Auf die nachfolgende Klage hat das SG den Beklagten unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides verurteilt, dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom 1. Februar 2019 bis 31. Juli 2019 - dem streitgegenständlichen Zeitraum - in gesetzlicher Höhe zu gewähren (Urteil vom 21. August 2019). Der Kläger sei anspruchsberechtigt, insbesondere hilfebedürftig, und habe im streitigen Zeitraum seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gehabt. Er sei - anders als vom Beklagten entschieden - nicht vom Alg II-Leistungsbezug ausgeschlossen. Dahinstehen könne, ob er im gegenständlichen Zeitraum seit mindestens fünf Jahren seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hatte, mit der Folge, dass hier die gesetzliche Rückausnahme eingreife. Denn er könne sich als österreichischer Staatsangehöriger jedenfalls auf das Gleichbehandlungsgebot des bilateralen Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege vom 17. Januar 1966 (DÖFA) berufen.

Mit seiner Berufung vom 6. September 2019 macht der Beklagte geltend, seine Leistungsverpflichtung ergebe sich weder aus dem DÖFA, wie aus dem zutreffenden Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 16. August 2013 - L 5 AS 2112/13 B ER - folge, noch aus einer Aufenthaltsverfestigung. Die erstmalige Anmeldung des Klägers vom 31. Mai 2012 bis 5. Juli 2013 in Berlin bei Frau L V sei zumindest teilweise angesichts der eidesstattlichen Versicherung von Frau S vom 21. November 2017 falsch gewesen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. August 2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Das angefochtene Urteil sei zutreffend. Konstitutiv für die Aufenthaltsverfestigung sei lediglich die Erstanmeldung bei der Meldebehörde; sodann sei lediglich das Vorliegen eines tatsächlichen gewöhnlichen Aufenthalts im Inland erforderlich.

Die Beteiligten haben sich mit einer schriftlichen Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen sowie auch im Übrigen auf die Gerichtsakte und die Leistungsakten ...

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