Entscheidungsstichwort (Thema)

Anspruch des österreichischen Staatsangehörigen auf Leistungen der Grundsicherung aufgrund des Deutsch-Österreichischen Fürsorgeabkommens

 

Orientierungssatz

1. Ausländische Arbeitsuchende sind nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB 2 grundsätzlich von Leistungen der Grundsicherung ausgeschlossen. Eine Ausnahme hiervon gilt, wenn er seinen Aufenthalt seit mindestens fünf Jahren im Bundesgebiet hat, ohne dass der Verlust seines Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG festgestellt wurde. Eine durchgehende Anmeldung ist keine Voraussetzung für die Begründung einer fünfjährigen Aufenthaltsverfestigung, sondern nur das Vorliegen eines fünfjährigen gewöhnlichen Aufenthalts nach erstmaliger Anmeldung im Inland.

2. Die generelle Freizügigkeitsvermutung allein eröffnet weder einen Zugang zu Leistungen nach dem SGB 2 noch steht sie dem Ausschluss von Leistungen nach dem SGB 2 entgegen (BSG Urteil vom 21. 3. 2019, B 14 AS 31/18 R).

3. Kann sich der Betroffene als österreichischer Staatsangehöriger auf das Deutsch-Österreichische Fürsorgeabkommen (DÖFA) berufen, so ist der Leistungsausschluss auf ihn nicht anzuwenden. Nach § 30 Abs. 2 SGB 1 bleiben Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts unberührt (BSG Urteil vom 13. 12. 2000, B 14 KG 1/00).

4. Die Voraussetzungen des Gleichbehandlungsgebots nach Art. 2 Abs. 1 DÖFA liegen vor. Bei der Regelleistung nach dem SGB 2 handelt es sich um Fürsorge i. S. von Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA).

 

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 27. August 2019 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren. Im Übrigen findet keine Kostenerstattung statt.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, und zwar noch für einen Zeitraum vom 1. Juni 2016 bis 29. Februar 2017.

Der 1965 geborene, österreichische und seinerzeit alleinstehende sowie wohnungslose Kläger reiste seinen Angaben zufolge 1989 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er stand von Oktober bis Dezember 1991 in einem Beschäftigungsverhältnis und war von Mai 2003 bis Oktober 2004 in B gemeldet. Aufgrund Sozialhilfebezugs erhielt er bis 31. Dezember 2004 Krankenversicherungsleistungen von der ehemaligen AOK Berlin. Im Dezember 2005 wurde er stationär in der C behandelt. Von Juni bis August 2007 bezog er Hilfe zum Lebensunterhalt vom Bezirksamt F. Von Ende Mai bis Anfang Juli 2016 war er arbeitsunfähig im Anschluss an einen Schlaganfall mit stationärer Krankenhausbehandlung; die Entlassung aus dem Krankenhaus erfolgte am 1. Juni 2016. Eine Meldung des Klägers bei der Meldebehörde erfolgte zum 20. Oktober 2016 im Wohnheim „D “ in B, in das er vom Beigeladenen zugewiesen worden war. Für die Unterbringungen des Klägers fielen vom 20. Oktober 2016 bis 15. November 2016 tägliche Kosten in Höhe von 37,08 € an. Für die Zeit vom 9. bis 31. Januar 2017 wurde er diesem Wohnheim unter Zugrundelegung eines Tagessatzes von 19,10 € und vom 1. Februar bis 31. März 2017 unter Zugrundelegung eines Tagessatzes von 20 € zugewiesen.

Den beim Beklagten gestellten Antrag vom 2. Juni 2016 auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, mit dem der Kläger erklärt hatte, seit ca. 15 Jahren obdach- und mittellos zu sein und B seither nicht verlassen zu haben, lehnte jener ab (Bescheid vom 7. November 2016, Widerspruchsbescheid vom 6. Januar 2017). Der Kläger verfüge über kein Daueraufenthaltsrecht, da er sich erst seit dem 20. Oktober 2016 in Deutschland aufhalte. Ein längerer lückenloser Aufenthalt sei nicht ersichtlich.

Das Sozialgericht Berlin (SG) hat den Beklagten mit Beschluss vom 10. Februar 2017 im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Kläger vom 1. Januar 2017 bis 31. Mai 2017 monatlich Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 409 € zu erbringen (S 149 AS 16557/16 ER). Mit einem rechtskräftigen Urteil vom 23. April 2018 hat das SG den Beklagten verurteilt, dem Kläger vom 1. März bis 30. November 2017 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren (S 65 AS 7975/17).

Auf die hier gegenständliche Klage hat das SG nach Beiladung des Sozialhilfeträgers den Beklagten unter entsprechender Aufhebung des angefochtenen Bescheides verurteilt, dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom 1. Juni bis 31. Dezember 2016 in Höhe der Regelleistung von 404 € monatlich und vom 1. Januar bis 29. Februar 2017 in Höhe von 409 € monatlich, sowie Kosten für Unterkunft und Heizung für die Zeit vom 20. Oktober 2016 bis 15. November 2016 in Höhe von 37,08 € täglich, vom 9. bis 31. Januar 2017 in Höhe von 19,10 € täglich und für Februar 2017 in Höhe von 20 € täglich zu gewähren (Urteil vom 27. August 2019). Der Kläger sei anspruchsberechtigt, insbesondere hilfebedürftig, und habe im streitigen Zeitraum seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gehabt. Er sei zwar als ausländischer Arbeitsu...

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