Entscheidungsstichwort (Thema)

Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 6 Monaten für Untätigkeitsklage. erforderliche Beschleunigungsmaßnahmen des Gerichts nach verzögerndem Prozessverhalten eines Beteiligten. Zuerkennung weiterer Monate gerichtlicher Inaktivität. Widerlegung der Vermutung eines Nichtvermögensnachteils. fehlende rechtliche Betroffenheit eines Beteiligten vom Ausgangsverfahren. kein Vermögensnachteil bei vorprozessualer Einschaltung eines Rechtsanwalts. grundsätzliche Zumutbarkeit der Anmeldung der Ansprüche ohne Rechtsanwalt

 

Leitsatz (amtlich)

§§ 198 ff GVG idF des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (GRüGV - juris: ÜberlVfRSchG).

Für eine Untätigkeitsklage nach § 88 SGG steht dem Gericht eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von idR sechs Monaten zu.

 

Orientierungssatz

1. Für die erste außergerichtliche Geltendmachung eines Entschädigungsanspruchs für ein überlanges Gerichtsverfahren bei einem überschaubaren Sachverhalt und weitgehend geklärter obergerichtlicher Rechtsprechung zu den Voraussetzungen eines Entschädigungsanspruchs ist für einen vernünftigen Laien die Heranziehung eines Rechtsanwaltes nicht erforderlich. Vielmehr ist es einem vernünftigen Laien zuzumuten - wie bei einer ersten Geltendmachung eines Anspruchs gegenüber seiner Versicherung - sich ohne anwaltliche Hilfe direkt an das beklagte Land, ggf über das Ausgangsgericht, zu wenden.

2. Es kann zur Anerkennung weiterer Monate gerichtlicher Inaktivität (Passivmonate) führen, wenn das Gericht nach zögerlichen Reaktionen eines Beteiligten und mehreren erforderlichen Fristsetzungen für abzugebende Stellungnahmen (bei zunehmender Dauer des Verfahrens) keine ausreichenden Maßnahmen ergreift, um bei weiteren erforderlichen Stellungnahmen des Beteiligten ein erneutes verzögerndes Prozessverhalten zu unterbinden (hier: beispielsweise durch Kontakt per Fax oder Telefon mit dem zuständigen Sachbearbeiter des Jobcenters).

3. Die gesetzliche Vermutung eines immateriellen Nachteils nach § 198 Abs 2 S 1 GVG kann widerlegt sein, wenn der Kläger überhaupt nicht im Leistungsbezug bei dem im Ausgangsverfahren beklagten Leistungsträger steht oder Leistungen des Trägers für sich beansprucht hat (hier: eine Angehörige eines Grundsicherungsempfängers).

4. Zur Vermeidung negativer Anreize kann anstelle einer Geldentschädigung auch eine Wiedergutmachung auf andere Weise für die überlange Dauer einer zweiten Klage ausreichen, wenn der Kläger diese weitere Klage erhoben hat, obwohl sie prozessual und materiell-rechtlich nicht erforderlich gewesen ist (hier wegen der Möglichkeit der Umstellung der ersten Klage).

 

Tenor

Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger zu 1 wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht Potsdam unter dem Aktenzeichen S 45 AS 1235/15 geführten Klageverfahrens eine Entschädigung in Höhe von 2.700,00 € zzgl. Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 11. Dezember 2020 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass das vor dem Sozialgericht Potsdam unter dem Aktenzeichen S 45 AS 2098/15 geführte Klageverfahren eine unangemessene Dauer aufgewiesen hat.

Im Übrigen werden die Klagen abgewiesen.

Der Beklagte trägt ein Drittel, die Kläger tragen zwei Drittel der Kosten des Rechtsstreits.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Kläger begehren Entschädigungen wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht Potsdam (SG) unter dem Aktenzeichen S 45 AS 1235/15 geführten Verfahrens. Der Kläger zu 1 begehrt darüber hinaus eine Entschädigung wegen überlanger Dauer des vor dem SG unter dem Aktenzeichen S 45 AS 2098/15 geführten Verfahrens.

Den beendeten Ausgangsverfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde:

S 45 AS 1235/15

26.06.2015

Eingang der auf die Verurteilung des JobCenters Teltow-Fläming (JC), über den Widerspruch der Kläger M N und A-M N sowie der M N gegen die Leistungsbescheide vom 10.12.2014 (Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch ≪SGB II≫ nur für den Kläger zu 1 für Dezember 2014 sowie vorläufig für Januar bis Mai 2015) unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gericht zu entscheiden, gerichteten Klageschrift der Prozessbevollmächtigten (PV) vom selben Tag

02.07.2015

- Gerichtliche Eingangsbestätigung an die PV der Kläger

- Aufforderung des JC zur Klageerwiderung und Aktenübersendung binnen 4 Wochen

- interne Wiedervorlage (WV) 6 Wochen

13.08.2015

Erinnerung an das JC mit einer Frist von 2 Wochen

28.08.2015

Eingang der Klageerwiderung des JC vom 26.08.2015 unter Beifügung eines Widerspruchsbescheides vom 24.03.2015:

Es liege keine Untätigkeit vor, denn mit Widerspruchsbescheid vom 24.03.2015 sei über den Widerspruch bereits entschieden worden. Da der Widerspruch sich nur gegen den Zeitraum ab Januar 2015 gerichtet habe, werde die Klage als Überprüfungsantrag betreffend den Monat Dezember 2014 gewertet.

16.09.2015

- Weiterleitung an die PV der Kläger zur S...

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