Entscheidungsstichwort (Thema)

Prozessuale Sperrwirkung bei Ersetzung eines im Widerspruchsverfahren ergangenen späteren Verwaltungsaktes

 

Orientierungssatz

1. Die Vorschrift des § 86 SGG erfasst auch den Fall der Ersetzung eines Verwaltungsaktes durch einen später ergangenen Verwaltungsakt. Die gesetzliche Regelung dient der Prozessökonomie. Der gesamte Streitstoff soll möglichst in einem Widerspruchsverfahren vollständig erledigt werden.

2. Eine Änderung oder Ersetzung liegt nur dann vor, wenn beide Verwaltungsakte zumindest teilweise denselben Streitgegenstand haben.

3. Ein Mehrbedarf kann als integraler Bestandteil der Regelleistung nicht isoliert geltend gemacht werden. Ein vorläufiger Bewilligungsbescheid wird durch den endgültigen Bewilligungsbescheid ersetzt.

 

Normenkette

SGG §§ 86, 96 Abs. 1, § 54 Abs. 1 S. 1, Abs. 4, §§ 123, 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 153 Abs. 2, §§ 193, 202; GVG § 17 Abs. 1 S. 2; GG Art. 100 Abs. 1 S. 1; SGB II § 20

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 27.04.2017; Aktenzeichen B 14 AS 10/17 B)

 

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt 2/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Klage- und Berufungsverfahren.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen eine vorläufige Leistungsbewilligung und begehrt vom Beklagten die Gewährung höherer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld II) nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für den Zeitraum vom 01. Januar bis zum 30. Juni 2015.

Der 1965 geborene Kläger steht jedenfalls seit 2009 im Leistungsbezug des Beklagten. Er bewohnt eine Mietwohnung mit einer Wohnfläche von 66,24 m², für die er im Streitzeitraum eine Bruttokaltmiete von 324,40 € zu entrichten hatte. Warmwasseraufbereitung und Beheizung der Wohnung erfolgen durch eine Gasetagenheizung. An die GASAG leistete der Kläger im Streitzeitraum monatliche Abschlagszahlungen von 37,00 €.

Jedenfalls seit 2013 berücksichtigt der Beklagte einen Mehrbedarf des Klägers wegen kostenaufwändiger Ernährung i. H. v. 10% des Regelsatzes. Dem liegen zwei amtsärztliche Stellungnahmen aus dem Jahr 2011 zu Grunde, wonach bei dem Kläger wegen seiner Körpergröße (210 cm) und seines Gewichts (105 kg) ein erhöhter Energiebedarf von 3.000 kcal bestehe.

Am 20. November 2014 stellte der Kläger den Antrag auf Weiterbewilligung von Leistungen für den Streitzeitraum. Gleichzeitig beantragte der Kläger,

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den anerkannten Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung auf einen Betrag i. H. v. 20% des Regelsatzes zu erhöhen,

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ihm wegen seiner Körpergröße und seines Gewichts für Kleidung, Wäsche und Schuhe (Schuhgröße 52) in extremer Übergröße einen Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II i. H. v. 100% der im Regelsatz vorgesehenen Summe für Kleidung/Schuhe als Mehrbedarf zu gewähren,

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ihm für die Kosten des Berliner Sozialtickets einen Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II i. H. v. 36,00 € zu bewilligen und

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ihm für den Betriebsstrom seiner Gastherme 9,11 € monatlich anstelle des vom Beklagten bisher gewährten Betrages von 1,75 € monatlich zu zahlen.

Mit Bescheid vom 28. November 2014 lehnte der Beklagte unter Bezugnahme auf die 2011 gefertigten amtsärztlichen Stellungnahmen die Gewährung “höherer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts„ wegen eines Mehrbedarfs für Ernährung ab. Den hiergegen gerichteten Widerspruch des Klägers vom 12. Dezember 2014, begründet mit dem Vorliegen eines im Lichte von Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu gewährenden “unabweisbaren, regelmäßig anfallenden, angemessenen, laufenden, atypischen und nicht nur einmaligen besonderen Bedarfs„, wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 30. April 2015 (W 9184/14) aus den Gründen des angefochtenen Bescheids zurück. Hieraufhin erhob der Kläger am 11. Mai 2015 bei Sozialgericht Berlin Klage, die unter dem Aktenzeichen S 131 AS 9695/15 geführt wird.

Die Anträge auf Gewährung eines Mehrbedarfs für das Sozialticket, Kleidung, Wäsche und Schuhe lehnte der Beklagte gleichfalls mit einem Bescheid vom 28. November 2014 ab, wobei er zur Begründung ausführte, die beantragten Leistungen seien von der Regelleistung umfasst. Hiergegen legte der Kläger am 12. Dezember 2012 zwei Widersprüche ein. Beide Widersprüche (W 9147/14 - Kleidung und W 9185/14 - Sozialticket) wies der Beklagte mit einem weiteren Widerspruchsbescheid vom 30. April 2015 unter Wiederholung seiner Ausführungen aus dem angefochtenen Bescheid zurück. Die beiden hieraufhin vom Kläger am 12. Mai 2015 erhobenen Klagen werden nach erfolgter Verbindung der Verfahren beim Sozialgericht Berlin unter dem Aktenzeichen S 183 AS 9809/15 geführt.

Mit dem hier verfahrensgegenständlichen Bescheid vom 12. Dezember 2014, der bereits am 27. November 2014 gefertigt aber nicht abgesandt wurde, gewährte der Beklagte dem Kläger sodann für die Zeit vom 01. Januar bis zum 30. Juni 20...

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