Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitnehmerüberlassung. Betriebsprüfung. Beitragsnachforderung. Befugnis zur Entgeltschätzung. Amtsermittlungspflicht des Rentenversicherungsträgers
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Befugnis zur Schätzung von Entgelten nach § 28f Abs 2 Satz 3 SGB IV besteht nur, wenn die Beitragshöhe aufgrund der nicht ordnungsgemäßen Aufzeichnungen des Arbeitgebers nicht konkret festgestellt werden kann. Die Feststellung der Beitragshöhe muss dabei nicht objektiv unmöglich sein; ausdrücklich lässt § 28f Abs 2 Satz 3 SGB IV eine Entgeltschätzung vielmehr bereits für den Fall zu, dass der prüfende Träger Arbeitsentgelte "nicht ohne unverhältnismäßig großen Verwaltungsaufwand" ermitteln kann.
2. Damit suspendiert § 28f Abs 2 SGB IV nicht die Amtsermittlungspflicht des prüfenden Trägers; dieser hat sich grundsätzlich sämtlicher in Betracht kommender Beweismittel zu bedienen, insbesondere beim Versicherten selbst, beim Entleihunternehmen oder bei anderen Stellen und Behörden Auskünfte über die beim Entleiher für einen vergleichbaren Arbeitnehmer geltenden wesentlichen Beschäftigungsbedingungen einschließlich der üblichen Entgelthöhe einzuholen (Anschluss an BSG vom 16.12.2015 - B 12 R 11/14 R = BSGE 120, 209 = SozR 4-2400 § 28p Nr 6).
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14. Dezember 2016 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um eine Beitragsnachforderung infolge einer Betriebsprüfung in Höhe von 45.791,18 Euro für die Jahre 2007 bis 2009. Streitig ist die Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen auf die Differenz zwischen Leiharbeitnehmern tatsächlich gezahlten und ihnen rechtlich zustehenden Arbeitsentgelten.
Im streitigen Zeitraum war der Kläger als Einzelkaufmann Inhaber der Firma „B-P“, welche auf der Grundlage einer Erlaubnis nach dem Arbeitnehmer-Überlassungsgesetz (AÜG) im Bereich Arbeitnehmerüberlassung tätig war.
Bereits im Jahre 2008 führte die Beklagte beim Kläger eine Betriebsprüfung nach § 28p SGB IV durch, bezogen auf den Zeitraum 1. Dezember 2003 bis 31. Dezember 2007 (bestandskräftiger Bescheid vom 21. Mai 2008).
Mit seinen Leiharbeitnehmern schloss der Kläger Arbeitsverträge, die wegen der Höhe des Arbeitsentgelts auf die Entgelttarifverträge zwischen der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen (CGZP) und dem Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleister (AMP) verwiesen. Der Kläger führt an, dass die Vergütung seiner Leiharbeitnehmer noch über den tariflichen Vorgaben gelegen habe.
Die im Jahre 2002 gegründete CGZP ist ein Zusammenschluss von ursprünglich sechs christlichen Gewerkschaften. Nach einem Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 14. Dezember 2010 (1 ABR 19/10) ist die CGZP nicht tariffähig, damit sind mit ihr abgeschlossene Tarifverträge nichtig. Im Jahre 2012 entschied das Bundesarbeitsgericht wiederholt, dass die Tariffähigkeit bereits seit ihrer Gründung nicht gegeben war (Beschlüsse vom 23. Mai 2012, 1 AZB 67/11, und vom 24. Juli 2012, 1 AZB 47/11).
Im Zuge dessen stellte sich bundesweit die Frage der Nachzahlung von Arbeitsentgelten nach § 10 Abs. 4 AÜG in der seit 1. Januar 2003 geltenden Fassung (Anspruch auf „Equal Pay“) sowie der Nacherhebung von Sozialversicherungsbeiträgen in Zusammenhang mit Betriebsprüfungen nach § 28p Abs. 1 SGB IV.
Mit Schreiben vom 22. August 2011 kündigte die Beklagte dem Kläger an, ab 22. November 2011 eine Betriebsprüfung vornehmen zu werden, bezogen auf die Zeit ab 1. Januar 2007. Der Kläger erbat aus gesundheitlichen Gründen eine Verschiebung der Betriebsprüfung in das folgende Jahr und erhob erste Bedenken gegen die nachträgliche Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen auf „Phantomlöhne“. Hierauf kündigte die Beklagte einen Beginn der Betriebsprüfung am 29. Dezember 2011 an. Mit anwaltlichem Schreiben vom 15. Dezember 2011 erbat der Kläger eine Verschiebung des Beginns der Betriebsprüfung in die dritte Kalenderwoche 2012.
Die auf die Jahre 2007 bis 2009 bezogene Betriebsprüfung fand in der Zeit vom 24. bis zum 27. Februar 2012 in den Betriebsräumen des Klägers statt. Ein Bericht des Finanzamtes Lichtenberg über eine auf die Jahre 2006 bis 2009 bezogene Lohnsteuer-Außenprüfung wurde beigezogen. Im Laufe der Betriebsprüfung machte der Kläger vollständige Angaben zu den Namen der bei ihm in den Jahren 2007 bis 2009 beschäftigten Leiharbeitnehmer, zu den jeweiligen Tätigkeitszeiträumen, zu den jeweiligen Entleihern, zu den gezahlten Entgelten und zum Inhalt der mit den Entleihern geschlossenen Verträge. Die Personalakten sowie die Lohndatendateien für jeden einzelnen Monat des Prüfzeitraums wurden vorgelegt. Welches Datenmaterial die Beklagte im Zuge der Betriebsprüfung genau ausgewertet hat, ist im Verwaltungsvorgang nicht dokumentiert.
Die Betriebsprüfung erfasste 1.143 Arbeitnehmer, davon 39 geringfügig Beschäftigte. Im Verwaltungsvorg...