Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch eines Menschen mit Behinderung auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form eines Eingangsverfahrens in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung
Orientierungssatz
1. Ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung iS des § 57 Abs 1 Nr 2 SGB 9 2018 iVm § 219 SGB 9 2018 ist zu erwarten, wenn der behinderte Mensch an der Herstellung der von der betreffenden Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) vertriebenen Waren oder Dienstleistungen durch nützliche Arbeit beteiligt werden kann. Eine solche Arbeitsleistung ist ausreichend, ohne dass es auf ein wirtschaftliches Verhältnis von Personalaufwand und Arbeitsergebnis iS betriebswirtschaftlicher Erwägungen ankommt (vgl BSG vom 29.6.1995 - 11 RAr 57/94 = BSGE 76, 178 = SozR 3-4100 § 58 Nr 7, vom 7.12.1983 - 7 RAr 73/82 = SozR 4100 § 58 Nr 14 sowie vom 10.3.1994 - 7 RAr 22/93 = SozR 3-4100 § 58 Nr 6). Eine positive Prognose ist bereits dann gerechtfertigt, wenn davon auszugehen ist, dass der behinderte Mensch nach der Teilnahme an der Förderung irgendwie am Arbeitsablauf der Werkstatt mitwirkt, ohne sich oder andere zu gefährden (vgl BSG vom 1.4.1993 - 7 RAr 86/92 = BSGE 72, 187 = SozR 3-3870 § 54 Nr 1).
2. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang von vornherein, ob und wie lange der Mensch mit Behinderung ggf wegen der Möglichkeit des Bezuges einer abschlagsfreien vorzeitigen Altersrente im Arbeitsbereich der WfbM tätig sein kann. Einer solchen Betrachtungsweise steht zum einen das Verbot betriebswirtschaftlicher Erwägungen bei der Prognose der Leistungsfähigkeit des Menschen mit Behinderung entgegen. Zum anderen geben weder § 57 SGB 9 2018 noch § 219 SGB 9 2018 eine bestimmte Dauer einer Tätigkeit vor.
3. Bei der in § 57 Abs 3 SGB 9 2018 bezeichneten Dauer von zwei Jahren handelt es sich um die Höchstförderungsdauer. Im Übrigen erlaubt § 58 Abs 1 S 2 SGB 9 2018 auch eine Abweichung vom Grundsatz, dass Leistungen im Arbeitsbereich (erst) im Anschluss an Leistungen im Berufsbildungsbereich erbracht werden, nämlich dann, wenn der Mensch mit Behinderung bereits über die für die in Aussicht genommene Beschäftigung erforderliche Leistungsfähigkeit verfügt, die er durch eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erworben hat.
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 19. März 2019 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor des Gerichtsbescheides wie folgt neu gefasst wird:
Der Bescheid der Beklagten vom 17. August 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Januar 2018 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben im Eingangsverfahren einer Werkstatt für behinderte Menschen zu erbringen.
Die Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist der Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) in Gestalt eines Eingangsverfahrens in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM).
Die 1956 geborene Klägerin erlernte den Beruf einer Diplom-Sozialpädagogin (Diplom vom 18. Februar 1998) und absolvierte erfolgreich eine Weiterbildung zur Suchttherapeutin (Abschluss 14. April 2002); sie arbeitete in diesem Beruf bis zum 31. März 2007. Seit 1. November 2007 bezieht sie von der Beklagten Rente wegen voller Erwerbsminderung wegen eines posttraumatischen Belastungssyndroms, außerdem ergänzende Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe - (SGB XII). Ihr wurde vom Versorgungsamt ein Grad der Behinderung von 70 zuerkannt. Ihre Regelaltersgrenze beläuft sich auf 65 Jahre und 10 Monate. Ein Anspruch auf Regelaltersrente besteht ab 1. Februar 2022.
Im Zeitraum 29. Mai 2017 bis 2. Juni 2017 absolvierte die Klägerin ein Vollzeitpraktikum im Bereich Mediengestaltung und Digitalisierung bei der C GmbH in B, im Zeitraum Juni 2017 bis Februar 2018 hospitierte sie dort einmal wöchentlich. In der Praktikumsauswertung vom 14. Mai 2018 wurde die Klägerin aus sozialpädagogischer Sicht fähig erachtet, im geschützten Rahmen mit sozialpädagogischer/psychologischer Begleitung eine LTA-Maßnahme zu absolvieren.
Die Klägerin stellte im Juni 2017 bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung von LTA in der Form der Übernahme in eine WfbM. Die Beklagte zog daraufhin einen Befundbericht der behandelnden Fachärztin für Nervenheilkunde H vom 8. Juni 2018 bei und lehnte den Antrag der Klägerin auf LTA durch Bescheid vom 17. August 2017, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 29. Januar 2018, ab. Im Hinblick auf den Beginn der Altersrente der Klägerin sei eine dauerhafte Eingliederung nicht zu erwarten.
Mit der Klage beim Sozialgericht Berlin (SG) hat die Klägerin eine LTA „für die C GmbH“ begehrt. Zur Begründung hat sie vorgetragen, ihre Regelaltersrente beginne erst am 1. Februar 2022, und sie wolle trotz ihrer Erkrankung bis dahin wieder arbei...