Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen. Widerspruch. Verfahrensdauer von mehr als sieben Jahren. Bearbeitungspraxis der Behörde wegen Personalmangel. Bearbeitung jüngerer und Zurückstellung älterer Widerspruchsverfahren. keine Zwischenmitteilung an Widerspruchsführer. Treu und Glauben. Vertrauensschutz. Einwand unzulässiger Rechtsausübung. Verjährung. Verwirkung

 

Leitsatz (amtlich)

Wer als Behörde wegen Personalmangel eine Hauspolitik praktiziert, wonach jüngere Widersprüche vor älteren einer Bearbeitung zugeführt werden und darüber keinerlei Zwischenmitteilung an Widerspruchsführer erlässt, muss nach einer Widerspruchsdauer von über sieben Jahren im Rahmen der Widerspruchsentscheidung den Einwand unzulässiger Rechtsausübung für die angefochtene Erstattungsforderung prüfen (hier bejaht).

 

Orientierungssatz

1. Anknüpfungspunkt für eine Verjährung der Erstattungsforderung ist allein die Unanfechtbarkeit des Feststellungsbescheides. Daraus folgt: Vor der Unanfechtbarkeit des Feststellungsbescheids läuft keine Verjährungsfrist für den Erstattungsanspruch.

2. Für eine Verwirkung müssen objektive Umstände oder ein Verhalten (des Gläubigers) vorliegen, aus denen heraus der Schuldner davon ausgehen kann, dass der Gläubiger sein Recht nicht (mehr) geltend machen wird. In der Rechtsprechung - auch des BSG - ist vor diesem Hintergrund anerkannt, dass allein die Untätigkeit in der Bearbeitung eines Widerspruchs oder eines Antrags durch eine Behörde grundsätzlich keine Verwirkung eines Rechts nach sich zieht. Nichtstun, also Unterlassen, kann ein schutzwürdiges Vertrauen für einen Schuldner in Ausnahmefällen allenfalls dann begründen und zur Verwirkung des Rechts führen, wenn der Schuldner dieses als bewusst und planmäßig erachten darf (vgl BSG vom 21.4.2015 - B 1 KR 7/15 R = SozR 4-7610 § 242 Nr 8 = juris RdNr 19 mwN).

 

Tenor

Die Berufungen gegen die Urteile des Sozialgerichts Neuruppin vom 24. Januar 2019 werden zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Kläger

für die beiden Verfahren auch für die Berufungsinstanz.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Kläger wenden sich gegen Erstattungsforderungen des Beklagten für den Zeit-raum vom 15. April 2008 bis zum 30. April 2009.

Die Klägerin zu 1) ist die Mutter des am geborenen Klägers zu 2) (im Folgenden: die Kläger). Die beiden Kläger wohnten im Zeitraum ab April 2008 zusammen mit der Tochter der Klägerin zu 1), Frau E R, und dem damaligen Lebensgefährten der Klägerin zu 1), Herrn T S, in W. Die Klägerin zu 1) war in dieser Zeit in einer Filiale von D S (in W), Herr T S in der Firma K GmbH beschäftigt. Anlässlich der Geburt des Klägers zu 2) erhielt die Klägerin zu 1) Mutterschaftsgeld, einen Zuschuss zum Mutterschaftsgeld, Elterngeld und Kindergeld. Herr S erhielt einen Festlohn sowie die Erstattung von Reisekosten (Spesen) aufgrund einer separaten Reisekostenabrechnung.

Die Klägerin zu 1) stellte für die o.g. gesamte Bedarfsgemeinschaft (im April und Mai 2008 noch bestehend aus zunächst drei Personen) am 15. April 2008 bei dem Beklagten einen Antrag auf Gewährung von Leistungen zur Grundsicherung, konkret zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Der Beklagte bewilligte mit mehreren Bescheiden, Änderungs- und Aufhebungsbescheiden vom 14. Mai 2008, 21. Juli 2008, 8. September 2008 u.a. den beiden Klägern für den Zeitraum vom 15. April 2008 bis zum 31. Oktober 2008 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes im Hinblick auf das schwankende Einkommen der Klägerin zu 1). Für die Kläger erfolgten Bewilligungen in folgender Höhe:

Klägerin zu 1)

Kläger zu 2)

April 2008:

28,39 Euro

Mai 2008:

0,00 Euro

Juni 2008:

36,87 Euro

31,56 Euro

Juli 2008:

113,59 Euro

50,79 Euro

August 2008:

111,83 Euro

50,03 Euro

September 2008:

136,94 Euro

61,25 Euro

Oktober 2008:

130,60 Euro

58,42 Euro

Auf den Fortzahlungsantrag vom 18. September 2008 bewilligte der Beklagte u.a. den beiden Klägern für die Zeit vom 1. November 2008 bis 30. April 2009 mit Bescheiden und Änderungsbescheiden vom 7. Oktober 2008, vom 18. November 2008 und vom 4. Dezember 2008, zuletzt mit Änderungsbescheid vom 20. Januar 2009, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in folgender Höhe:

November und Dezember 2008 sowie Februar 2009, März 2009 und April 2009:

Klägerin zu 1)

Kläger zu 2)

112,89 Euro

48,60 Euro

Januar 2009:

Klägerin zu 1)

Kläger zu 2)

73,84 Euro

28,98 Euro

Anlässlich des Fortzahlungsantrags der Bedarfsgemeinschaft für den Anschlusszeitraum ab dem 1. Mai 2009 reichte die Klägerin zu 1) auf Aufforderung erstmals die Spesen- und Reisekostenabrechnungen für Herrn S für die Zeit ab 16. April 2008 ein. Der Beklagte lehnte daraufhin die weitere Bewilligung von Leistungen ab Mai 2009 ab.

Mit Bescheid vom 17. Juni 2009 hob der Beklagte die Leistungsbewilligung für den Zeitraum vom 15. April 2008 bis 31. Oktober 2008 u.a. für die beiden Kläger auf. Die Spesen, di...

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