Entscheidungsstichwort (Thema)
Pflicht zur Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit durch den Rentenversicherungsträger bei einer spezifischen Leistungsbehinderung bzw einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen. Befragungsrecht im sozialgerichtlichen Verfahren. Rente wegen Erwerbsminderung. Zeitliches Leistungsvermögen. Beweiswürdigung. Befragung des Sachverständigen. Versicherungsrechtliche Voraussetzungen
Orientierungssatz
1. Zur Pflicht des Rentenversicherungsträgers zur Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit bei einem noch mindestens sechsstündigen täglichen Leistungsvermögen im Falle des Vorliegens einer spezifischen Leistungsbehinderung oder einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen (vgl BSG vom 30.11.1982 - 4 RJ 1/82 = SozR 2200 § 1246 Nr 104, vom 19.12.1996 - GS 2/95 = BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8, vom 18.2.1998 - B 5/4 RA 58/97 R sowie vom 9.5.2012 - B 5 R 68/11 R = SozR 4-2600 § 43 Nr 18).
2. Soweit mit einer ergänzenden Befragung beabsichtigt wird, auf die gerichtliche Überzeugungsbildung im Hinblick auf die - freie (§ 128 Abs 1 S 1 SGG) - Würdigung von Gutachten einzuwirken, besteht kein Befragungsrecht nach § 116 S 2 SGG, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO (vgl BSG vom 9.1.2006 - B 1 KR 52/05 B).
Normenkette
SGB VI §§ 43, 240; SGG § 118 Abs. 1 S. 1, § 128 Abs. 1 S. 1; ZPO §§ 397, 402, 411 Abs. 4
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 16. Dezember 2010 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung von Versichertenrente wegen voller Erwerbsminderung (EM), hilfsweise wegen teilweiser EM, auf Zeit ab 1. März 2008.
Die 1962 in der Türkei geborene Klägerin hatte keine Berufsausbildung absolviert und war nach ihrer Übersiedlung (Mai 1985) in Deutschland in der Zeit von 1993 bis 30. September 2007 als Reinigungskraft versicherungspflichtig beschäftigt. Während und nach dem Bezug von Arbeitslosengeld (1. Oktober 2007 bis 5. Mai 2008) ging sie bis 31. Mai 2008 einer geringfügigen versicherungsfreien Beschäftigung nach (Versicherungsverlauf vom 14. April 2011).
Bei der Klägerin ist ein Grad der Behinderung von 40 anerkannt aufgrund folgender Leiden: Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Wirbelsäulenverformung, Nervenwurzelreizerscheinungen und Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Osteoporose, Depression, psychosomatische Störungen, Migräne, Funktionsbehinderung des Hüft- und Kniegelenks beidseits, Funktionsstörung durch Fußfehlform beidseits, chronische Magenschleimhautentzündung, Verwachsungsbeschwerden nach Bauchoperation, Sehminderung, Funktionsbehinderung des Schultergelenks links, Carpaltunnelsyndrom beidseitig, Harninkontinenz, wiederkehrende Harnwegsinfekte (Widerspruchsbescheid des Landesamtes für Gesundheit und Soziales Berlin vom 26. Januar 2011).
Im Februar 2008 beantragte die Klägerin EM-Rente. Die Beklagte ließ die Klägerin durch den Allgemeinmediziner Dr. M untersuchen und begutachten. Dieser Arzt bescheinigte der Klägerin ein noch mehr als sechsstündiges tägliches Leistungsvermögen für körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeiten überwiegend im Sitzen unter Beachtung der aufgezeigten qualitativen Einschränkungen (Gutachten vom 23. April 2008; Zustand nach Hysterektomie ohne Adnexe 3/2008, chronisch rezidivierende Refluxösophagitis mit Zustand nach Antrumgastritis, gering ausgeprägte obstruktive Lungenventilationsstörung in Ruhe mit Grenzbefund zur Lungenüberblähung). Mit Bescheid vom 30. April 2008 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab.
Im Widerspruchsverfahren veranlasste die Beklagte noch ein Gutachten des Chirurgen und Sozialmediziners P. Dieser hielt noch leichte bis mittelschwere Arbeiten im Wechsel der Haltungsarten im Umfang von sechs Stunden und mehr zumutbar (Gutachten vom 12. Juni 2008; Zervikalgien mit rezidivierenden Cephalgien, Brachialgien bei Steilstellung, wiederkehrend schmerzhafte Facettenarthrose, Dorso-Lumbalgie bei Fehlhaltung der Wirbelsäule, Spinalkanalenge und Belastungsschmerz, anhaltende somatoforme Schmerzstörung bei bekannter Depression, Omalgie links bei Periarthropathie, mitgeteilt chronisch obstruktive Lungenerkrankung). Mit Widerspruchsbescheid vom 29. Juli 2008 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Volle bzw. teilweise EM würden nicht vorliegen. Die Klägerin sei in der Lage, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen zu arbeiten.
Im Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) Berlin Befundberichte der behandelnden Ärzte erstatten lassen, und zwar von dem Neurologen A vom 14. Oktober 2008, von dem Arzt K vom 20. Oktober 2008, von dem Frauenarzt Dr. S, von dem Orthopäden K vom 7. November 2008 und von dem Internisten und Rheumatologen Dr. H vom 3. November 2008.
Das SG hat den Facharzt Neurologie ...