Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht: Voraussetzung der Zuerkennung des Merkzeichens RF. Anforderung an den Grad der Hörschädigung. Stuhlinkontinenz als Grund der Zuerkennung

 

Orientierungssatz

1. Die Zuerkennung des Merkzeichens “RF„ und die damit einhergehende Befreiung von der Rundfunkgebühr für einen Schwerbeschädigten kommt erst bei einer als gravierend einzuschätzenden beidseitigen Hörschädigung in Betracht, die nicht nur in einer bloßen Schallleitungsschwerhörigkeiten begründet ist und die mit einem GdB von wenigstens 50 zu bewerten ist (Fortführung LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15. März 2012, Az.: L 11 SB 105/09).

2. Die Zuerkennung des Merkzeichens “RF„ zugunsten eines Schwerbeschädigten, der nicht blind oder hörgeschädigt ist, kommt nur dann in Betracht, wenn der Betroffenen allgemein und umfassend aufgrund seines Leidens von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen jeglicher Art ausgeschlossen ist und eine Teilnahme auch nicht mit zumutbaren Hilfsmitteln (hier: Windelhose) ermöglicht werden kann.

3. Eine nur leichte Stuhlinkontinenz, die es dem betroffenen Schwerbeschädigten ermöglicht, sich für mehrere Stunden (hier: mindestens vier Stunden) frei zu bewegen, rechtfertigt nicht die Zuerkennung des Merkzeichens “RF„.

4. Einzelfall zur Beurteilung der Zuerkennung des Merkzeichens “G„ für besondere Bewegungseinschränkungen.

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 19. Mai 2011 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Feststellungen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen “G„ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und “RF„ (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht).

Zugunsten der 1941 geborenen Klägerin hatte der Beklagte mit Bescheid vom 29. Mai 2002 mit Wirkung ab dem 20. September 2001 einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 bestandskräftig festgestellt. Dem lagen folgende Einzel-GdB zugrunde:

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Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (Einzel-GdB: 30),

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Polyneuropathie, Restless-legs-Syndrom (Einzel-GdB: 20),

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Harninkontinenz (Einzel-GdB: 20),

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Darmwandausstülpungen, Afterschließmuskelschwäche (Einzel-GdB: 20),

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Schwerhörigkeit beiderseits mit Ohrgeräuschen (Einzel-GdB: 10).

Am 18. Juli 2008 beantragte die Klägerin unter Vorlage medizinischer Unterlagen und unter Hinweis auf ein Mammakarzinom und der Verschlechterung einer Stuhl- und der Harninkontinenz die Feststellungen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen “G„, “B„ (Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson) und “RF„. Der Beklagte zog unter anderem einen Arztbrief der R Kliniken vom 16. Juli 2008 über eine stationäre Behandlung der Klägerin ab dem 7. Juli 2008 bei, in deren Rahmen insbesondere ein Mammakarzinom links (pT2 N1a G2 L1 V0 R0) diagnostiziert worden war. Nach Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme bei dem Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. G vom 16. Oktober 2008 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 23. Oktober 2008 mit Wirkung ab dem 18. Juli 2008 einen GdB von 80 wegen

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Erkrankung der Brust links (in Heilungsbewährung) (Einzel-GdB: 60),

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Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (Einzel-GdB: 30),

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Polyneuropathie, Restless-legs-Syndrom (Einzel-GdB: 20),

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Harninkontinenz (Einzel-GdB: 20),

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Darmwandausstülpungen (Divertikulose), Afterschließmuskelschwäche, organische Einengung der Speiseröhre (Einzel-GdB: 20),

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Schwerhörigkeit beiderseits mit Ohrgeräuschen (Einzel-GdB: 20),

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Diabetes mellitus Typ II (Einzel-GdB: 10),

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Depression (Einzel-GdB: 10)

fest. Die Feststellungen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die begehrten Merkzeichen lehnte der Beklagte ab.

Gegen den Bescheid vom 23. Oktober 2008 legte die Klägerin Widerspruch ein, mit dem sie die Merkzeichen “G„ wegen vorhandener innerer Leiden und “RF„ wegen der Harninkontinenz geltend machte. Der Beklagte zog eine Epikrise des S Krankenhauses vom 2. Dezember 2008 über eine stationäre Behandlung der Klägerin vom 29. Oktober bis 2. Dezember 2008 bei, in der als Diagnosen eine perforierte Sigmadivertikulitis mit kotiger Peritonitis, ein Zustand nach operativer Therapie eines Mammakarzinoms mit Radiochemotherapie - letzter Zyklus beendet am 27. Oktober 2008 -, arterieller Hypertonus, Wundinfektion, periphere Peronaeusläsion mitgeteilt wurden. Nach Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme bei dem ärztlichen Gutachter Dr. K vom 19. Januar 2009 holte der Beklagte medizinische Auskünfte bei dem Orthopäden R (Eingang bei dem Beklagten am 6. März 2009) und dem Facharzt für Chirurgie O vom 10. März 2009 ein und leitete diese Auskünfte Dr. K zur erneuten gutachtlichen Stellungnahme zu. In dieser vom 6. April 2009 ging Dr. K bei unveränderter Beurteilung von GdB und Einzel-GdB vom Nichtvorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für Merkzeichen aus. Nach Einholung einer ärztlichen Auskunft der Fachärztin für Nervenheilku...

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