Entscheidungsstichwort (Thema)
Prozessrecht. Zulässigkeit der Klage. Klagefrist. Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides. Zugangsfiktion. Zurückverweisung. Sozialgerichtliches Verfahren: Geltung des gesetzlich vermuteten Zustellungsdatums für den Zeitpunkt der Bekanntgabe eines mit der Post übermittelten Verwaltungsakts bei tatsächlich früherem Zugang
Orientierungssatz
Ein mit der Post im Inland übermittelter Verwaltungsakt gilt auch dann erst am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, wenn er dem Empfänger tatsächlich schon früher zugegangen ist. (Anschluss LSG Chemnitz, Beschluss vom 23. September 2002, Az.: L 3 AL 78/02)
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 20. April 2010 aufgehoben.
Die Sache wird an das Sozialgericht Berlin zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die 1965 geborene Klägerin begehrt die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB).
Mit bestandskräftigem Bescheid vom 21. März 2006 stellte der Beklagte aufgrund multipler Funktionsbeeinträchtigungen einen GdB von 60 fest.
Den Neufeststellungsantrag der Klägerin vom 11. Dezember 2007, mit dem sie eine Verschlimmerung bestehender sowie das Hinzutreten neuer Beeinträchtigungen geltend machte, wies der Beklagte mit dem hier angefochtenen Bescheid vom 2. Juli 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Oktober 2009 mit der Begründung zurück, dass keine wesentliche Änderung bestehender Funktionsbeeinträchtigungen im Sinne des § 48 des Sozialgesetzbuches Zehntes Buch (SGB X) eingetreten sei. Ausweislich eines handschriftlichen Vermerkes in den Verwaltungsvorgängen des Beklagten (vgl. Bl. 253 der Beiakte) wurde der Widerspruchsbescheid am 8. Oktober 2009 zur Post aufgegeben.
Die Klägerin hat am 10. November 2009 Klage vor dem Sozialgericht Berlin erhoben, mit der sie die Feststellung eines Gesamt-GdB von mehr als 60 begehrt.
Mit Gerichtsbescheid vom 20. April 2010 hat das Sozialgericht Berlin die Klage abgewiesen. Die Klage sei wegen Versäumung der einmonatigen Klagefrist des § 87 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) unzulässig. Danach sei die Klage binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides zu erheben. Der Widerspruch sei nach dem eigenen Vorbringen der Klägerin am 9. Oktober 2009 (einem Freitag) zugegangen und damit bekannt gegeben, so dass die Klage spätestens am 9. November 2009 hätte erhoben werden müssen. Die erst am 10. November 2009 erhobene Klage wahre diese Frist nicht. Auf die Vorschrift des § 37 Abs. 2 SGB X, wonach ein Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt worden sei, erst am 3. Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben gelte, könne sich die Klägerin zur Wahrung der Klagefrist nicht erfolgreich berufen. Bei zugestandener früherer Bekanntgabe gelte die Zugangsfiktion des § 37 SGB X nicht. Der Klägerin sei auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil sie nicht ohne Verschulden verhindert gewesen sei, die Klagefrist einzuhalten.
Gegen den am 29. April 2010 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 31. Mai 2010, einem Montag, Berufung eingelegt.
Sie ist der Auffassung, dass die Klage aufgrund der Zugangsfiktion des § 37 SGB X fristgerecht erhoben worden ist.
Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 20. April 2010 und den Bescheid des Beklagten vom 2. Juli 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Oktober 2009 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, einen höheren Grad der Behinderung als 60 ab dem 11. Dezember 2007 festzustellen,
hilfsweise,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 20. April 2010 aufzuheben und die Sache an das Sozialgericht Berlin zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Im Einverständnis der Beteiligten konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Die zulässige Berufung ist im Sinne der Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung und Zurückverweisung der Sache an das Sozialgericht begründet.
Gemäß §§ 159 Abs. 1 Nr. 1, 105 Abs. 1 S. 3 SGG kann das Landessozialgericht als Berufungsinstanz durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn dieses (zu Unrecht) die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache zu entscheiden. Eine solche Konstellation ist vorliegend gegeben. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Klage für unzulässig erachtet und daher weitere Feststellungen in der Sache nicht getroffen. Denn entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist die Klage, gegen deren Zulässigkeit auch im Übrig...