Entscheidungsstichwort (Thema)
Altersrente für schwerbehinderte Menschen. Hinweispflicht des Rentenversicherungsträgers auf eine mögliche Antragstellung. Zugang des Hinweisschreibens. Zugangsvermutung. Anscheinsbeweis. sozialrechtlicher Herstellungsanspruch
Orientierungssatz
Ein Rentenversicherungsträger genügt seiner gesetzlichen Hinweispflicht nur dann, wenn er das Hinweisschreiben nicht nur absendet, sondern auch dafür Sorge trägt, dass die Information den Versicherten tatsächlich erreicht. Kommt es hierüber zwischen den Beteiligten zum Streit, ist nach den Grundsätzen der Beweislast die Beklagte in der Nachweispflicht. Für ein solches Hinweisschreiben besteht weder eine Zugangsvermutung noch gelten die Grundsätze des Anscheinsbeweises (vgl BSG vom 26.7.2007 - B 13 R 4/06 R = SozR 4-2600 § 115 Nr 2).
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. Januar 2011 geändert.
Unter Änderung des Bescheides der Beklagten vom 13. Juni 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. September 2008 wird die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab 01. Oktober 2005 Altersrente für schwerbehinderte Menschen unter Anrechnung gezahlter Rentenleistungen zu gewähren.
Die Beklagte erstattet die außergerichtlichen Kosten der Klägerin für beide Instanzen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Im Streit ist der Beginn der Altersrente, die die 1945 geborene Klägerin von der Beklagten ab 01. Mai 2008 bezieht.
Auf den Antrag der Klägerin vom 28. April 2000 bewilligte ihr die Beklagte mit Bescheid vom 06. Dezember 2000 Rente wegen Berufsunfähigkeit beginnend mit dem 01. Mai 2000 längstens bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres mit Beginn der Regelaltersrente.
Am 30. Mai 2008 bei der Beklagten eingehend beantragte die Klägerin auf dem beigefügten Vordruck Altersrente wegen Vollendung des 60. Lebensjahres für schwerbehinderte Menschen im Sinne des § 2 Abs. 2 des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches oder für Berufsunfähige oder Erwerbsunfähige als Vollrente beginnend am 01. Oktober 2005.
Sie führte aus, dass ihr erst beim Ausfüllen der Formulare, die sie sich aus dem Internet besorgt habe, aufgefallen sei, dass sie bereits ab dem 60. Lebensjahr einen Anspruch auf die höhere Altersrente habe. Sie sei entsetzt und enttäuscht, dass sie so gar nichts darüber von der Beklagten gehört habe. Schließlich sei sie doch schon lange berufsunfähig und erhalte deswegen eine Rente.
Mit Bescheid vom 13. Juni 2008 bewilligte die Beklagte der Klägerin auf ihren Antrag vom 30. Mai 2008 anstelle der bisherigen Rente Altersrente für schwerbehinderte Menschen beginnend am 01. Mai 2008 laufend mit monatlich 1.607,36 Euro. Ergänzend wurde unter Bezugnahme auf das Schreiben der Klägerin vom 29. Mai 2008 ausgeführt, es werde bedauert, dass die Klägerin keine Kenntnis von der Möglichkeit des Bezugs einer Altersrente wegen Schwerbehinderung ab dem 60. Lebensjahr gehabt habe. Allerdings sei mit Schreiben vom 05. September 2005 ausdrücklich auf diese Möglichkeit hingewiesen worden. Sie sei daher nicht in der Lage, eine Altersrente rückwirkend zu bewilligen. Die Altersrente beginne daher mit Beginn des Antragsmonats am 01. Mai 2008.
Mit dem am 11. Juli 2008 bei der Beklagten eingegangenen Widerspruch teilte die Klägerin mit, ihr sei ein Schreiben mit der nahe liegenden Gestaltungsmöglichkeit nicht zugegangen. Seit einigen Jahren sei die Postzustellung an ihrem Wohnort sehr wechselhaft. Es gebe Zeiträume, in denen sie alle Post erreiche, aber sie müsse immer wieder feststellen wie im geschilderten Fall, dass sie sie nicht erreicht habe. Gern sei sie bereit, an Eides Staat zu erklären, dass sie bei Kenntnis der Sach- und Rechtslage rechtzeitig einen entsprechenden Antrag auf Altersrente gestellt hätte. Aus ihrer Sicht gebe es keinen einsichtigen Grund, warum sie auf diese deutliche Gestaltungsmöglichkeit hätte verzichten können. Der berechnete Nachzahlungsbetrag spreche eine mehr als deutliche Sprache.
Mit Widerspruchsbescheid vom 22. September 2008 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Maßgebliche gesetzliche Vorschrift bilde der § 99 SGB VI. Der Antrag auf Altersrente sei am 30. Mai 2008 gestellt. Die Anspruchsvoraussetzungen für diese Altersrente seien bereits am 04. September 2005 erfüllt gewesen. Wenn der Antrag nicht innerhalb von drei Kalendermonaten nach Ablauf des Monats beantragt worden sei, indem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt waren, beginne die Altersrente mit dem Monat der Antragstellung am 01. Mai 2008. Am 05. September 2005 sei ein aufklärendes Schreiben nach § 115 Abs. 6 SGB VI der Klägerin übersandt worden. Der Postrücklauf sei nicht zu verzeichnen, so dass davon ausgegangen werden könne, dass das Schreiben auch zugegangen sei. Am 10. August 1989, 14. November 1997 und 26. Juni 2000 seien der Klägerin Rentenauskünfte erteilt worden, in denen die Voraussetzungen für die einzelnen Altersrentenarten mitgeteilt worden seien. Ferner dürfe es selbstverständlich sein, dass der Versicherte, der in absehbarer Zeit d...