Entscheidungsstichwort (Thema)
Grad der Behinderung. Merkzeichen „G”. erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit bei psychischen Störungen
Leitsatz (redaktionell)
Schwerbehinderte Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen dürfen von der Vergünstigung des Merkzeichens „G” nicht generell ausgeschlossen werden. Erforderlich für ihre Einbeziehung in den Kreis der Begünstigten ist jedoch, dass die bei ihnen vorliegenden psychischen Beeinträchtigungen – soweit sie das Gehvermögen selbst nicht betreffen – nicht nur mit Verstimmungen, Antriebsminderungen und Angstzuständen einhergehen, sondern den Regelfällen bei Anfällen und Störungen der Orientierungsfähigkeit vergleichbar sind oder mit Beeinträchtigungen verbunden sind, die sich spezifisch bzw. unmittelbar auf das Gehvermögen auswirken. Hinsichtlich Letzterem ist eine Vergleichbarkeit ausschließlich mit den Regelfällen bei Anfällen und Störungen der Orientierungsfähigkeit nicht notwendig. Vielmehr sind insoweit auch andere Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab heranzuziehen (Anschluss an BSG, Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R).
Normenkette
SGB IX § 2 Abs. 1 S. 1, § 69 Abs. 1 S. 1, Abs. 3-4, § 145 Abs. 1 S. 1, § 146 Abs. 1 S. 1, § 70 Abs. 2, § 159 Abs. 7; Anl. zur § 2 VersMedV Teil D Nr. 1 d; Anl. zur § 2 VersMedV Teil D Nr. 1 e; Anl. zur § 2 VersMedV Teil D Nr. 1 f; GG Art. 3 Abs. 3 S. 2
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. Mai 2014 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Kostenentscheidung im Widerspruchsbescheid vom 24. Mai 2012 bleibt hiervon unberührt.
Die Revision wird nicht zu gelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 80 sowie die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen “G„ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) für die Zeit ab dem 13. Mai 2011.
Die 1958 geborene Klägerin übte zuletzt den Beruf einer Steuerberaterin aus. Wegen psychischer Beeinträchtigungen, wegen derer sie sich im Frühjahr 2008 einer von der zuständigen Krankenkasse finanzierten Rehabilitationsbehandlung unterzogen hatte, erhält sie seit spätestens März 2008 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung aus der gesetzlichen Rentenversicherung, die ihr zunächst befristet gewährt worden war sowie seit einiger Zeit auf Dauer gewährt wird. Daneben bezieht sie Renten aus mehreren privaten Berufsunfähigkeitsversicherungen, deren Versicherungsschutz Erkrankungen der Wirbelsäule (teilweise) nicht umfasst.
Am 13. Mai 2011 wandte sich die Klägerin erstmals an den Beklagten und beantragte, ihren Behindertenstatus festzustellen. Zur Begründung machte sie geltend, dass sie an einer Depression/ Neurasthenie, einem Lumbalsyndrom, einer Arthrose in der Schulter, im Becken und in den Fußgelenken, einer chronischen Bronchitis sowie unter chronischen Schmerzen leide; infolge dieser Leiden sei sie zugleich in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt. Zum Beleg für ihre Angaben überreichte sie neben weiteren medizinischen Unterlagen insbesondere Auszüge aus neurologisch-psychiatrischen Gutachten der Ärzte Dr. K. vom 8. Juli 2008 für eine Berufsunfähigkeitsversicherung und Dr. Sch. vom 5. Februar 2010 für die gesetzliche Rentenversicherung.
Der Beklagte holte Befundberichte der Allgemeinmedizinerin Dr. A. und des Neurologen und Psychiaters Dr. M. ein und ließ die vorhandenen medizinischen Unterlagen durch die Ärztin Dr. Z. gutachtlich auswerten. Deren Empfehlung folgend stellte er mit seinem Bescheid vom 9. September 2011 den GdB bei der Klägerin wegen psychischer Störungen (Neurosen) mit 20 fest und lehnte die Zuerkennung des Merkzeichens “G„ ausdrücklich ab.
Mit ihrem hiergegen gerichteten Widerspruch machte die Klägerin geltend, dass der Beklagte ihren Gesundheitszustand unzureichend gewürdigt habe. Allein ihr psychisches Leiden, bei dem es sich um eine mittlerweile chronifizierte rezidivierende depressive Erkrankung mit häufigen mittel- bis schwergradigen Episoden handele, sei mit einem Einzel GdB von mindestens 60 zu bewerten. Auch für die daneben bestehenden Leiden am gesamten Stütz- und Bewegungsapparat, die mit sehr starken Schmerzen und zum Teil mit Taubheitsgefühlen in den Beinen verbunden seien und ihr Steh- und Gehvermögen erheblich beeinträchtigten, sei ein GdB von mindestens 60 zu vergeben. Ihre weiterhin vorliegende chronische Bronchitis sei mit einem Einzel GdB von 25 zu bemessen. Für die überdies bestehende Pollenallergie sei ebenso wie für die aufgrund eines Sturzes im Jahr 2009 verbliebene Narbe am Kinn und die Schilddrüsendysfunktion ein Einzel GdB von jeweils 10 anzusetzen. Das Merkzeichen “G„ stehe ihr zu, weil sie wegen ihrer orthopädischen Leiden nur noch in der Lage sei, eine Wegstrecke von ca. 100...