Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Arzneimittel. Off-Label-Use. Anspruch auf Versorgung mit einem Fertigarzneimittel mit dem Wirkstoff Fampridin (4-Aminopyridin) bei Episodischer Ataxie Typ II
Orientierungssatz
Zum Anspruch auf Versorgung mit einem Fertigarzneimittel mit dem Wirkstoff Fampridin (4-Aminopyridin) nach ärztlicher Verordnung im Rahmen ambulanter Behandlung einer Episodischen Ataxie Typ II im Rahmen eines Off-Label-Uses.
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. Juli 2015 und der Bescheid der Beklagten vom 26. Februar 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. August 2013 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger bei ärztlicher Verordnung mit dem Arzneimittel Fampyra® (Wirkstoff Fampridin [= 4-Aminopyridin]) zu versorgen. Die Beklagte hat die Kosten für die erfolgte vorläufige Versorgung endgültig zu tragen.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu übernehmen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Im Streit steht die Versorgung des Klägers mit dem (Fertig)Arzneimittel Fampyra ®, Wirkstoff: Fampridin (= 4-Aminopyridin).
Der 1991 geborene Kläger leidet unter anderem an einer Episodischen Ataxie Typ II und einem milden Faktor XIII-Mangel.
Bei der Episodischen Ataxie Typ II handelt es sich um eine genetisch bedingte seltene Erkrankung. Es kommt typischerweise mehrmals täglich zu für Sekunden bis Stunden dauernden Attacken mit Schwindel sowie verwaschenem Sprechen, dem Sehen von Doppelbildern und Gang- und Standunsicherheit.
Der Kläger beantragte - wie bereits zuvor in mehreren Fällen - am 16. Mai 2012 bei der Beklagten die Kostenübernahme für Fampyra®. Bei seinem stationären Aufenthalt in der C vom 3. Mai 2012 bis zum 12. Mai 2012 habe ihm dieses Medikament geholfen. Die ihn behandelnde Neurologische Hochschulambulanz der C, Zentrum für Neurologie und Psychiatrie bat ebenfalls mit Schreiben vom 30. Mai 2012 um Kostenübernahme.
Die Beklagte lehnte eine Kostenübernahme mit Bescheid vom 26. Februar 2013 ab.
Der Kläger erhob Widerspruch, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 13. August 2013 mit der Begründung zurückwies, beim Kläger lägen die vom Bundessozialgericht (BSG) in dessen Urteil vom 19. März 2002 (B 1 KR 37/00 R) zum Off-Label-Use von Arzneimitteln aufgestellten Kriterien nicht vor. Es liege zwar eine die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung vor und es fehlten zugelassene medikamentöse Optionen. Der bereits eingeschaltete Medizinische Dienst der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg e. V. (MDK) habe aber auf verfügbare nichtmedikamentöse Maßnahmen hingewiesen, wie zum Beispiel Ergotherapie oder verhaltenstherapeutisch orientierte Entspannungstechniken der psychosomatischen Grundversorgung. Auch gebe es für Fampyra® keine Phase III-Studien und keinen zu erwartenden Antrag auf Zulassung für die Indikation Ataxie Typ II.
Der Kläger hat hiergegen am 19. August 2013 Klage beim Sozialgericht Berlin (SG) erhoben. Zur Begründung hat er auf die Schwere seiner Erkrankung hingewiesen. Er leide unter wöchentlich drei- bis viermal auftretenden schwersten Schwindelattacken, aufgrund derer die Aufnahme einer Ausbildung gefährdet sei.
Die Beklagte hat sich auf eine ergänzend eingeholte Stellungnahme des MDK vom 5. Februar 2014 durch Frau Dr. S berufen. Unter anderem liege eine Kontraindikation zur Behandlung mit Fampyra® vor, weil beim Kläger in der Vergangenheit Krampfanfälle aufgetreten seien.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 15. Juli 2015 abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf die Versorgung mit Fampyra® außerhalb der Zulassung. Eine solche sei nämlich grundsätzlich ausgeschlossen. Eine Ausnahmeempfehlung in der Arzneimittelrichtlinie fehle. Auch die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen lägen nicht vor. Denn es fehle jedenfalls an der erforderlichen Datenlage der begründeten Aussicht auf einen Behandlungserfolg. Es müssten Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten ließen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden könne. Es sei weder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt noch lägen Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III gegenüber Standard oder Placebo vor. Von den Erfordernissen könne auch nicht abgewichen werden, weil ein so genannter Seltenheitsfall vorliege. In Anbetracht der Vielzahl vom MDK benannten kleineren Studien sei nämlich nicht ersichtlich, dass die Krankheit so selten sei, dass sie einer systematischen Erforschung nicht zugänglich sei. Ein Seltenheitsfall liege nur vor, wenn das Krankheitsbild aufgrund seiner Singularität medizinisch nicht erforschbar sei. Allein die geringe Patientenzahl stünde einer wissenschaftlichen Erforschung nicht grundsätzlich entgegen (Bezugnahme auf BSG, Urteil vom 3. Juli 2012 - B 1 KR 25/11 R). Zuletzt könne ein Anspruch auf Versorgung trotz Off-Label-Use aus verfassungsrechtlichen Grundsätzen geboten sein. Dazu müsste ...