Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsärztliche Vergütung. Abrechnungsprüfung. sachlich-rechnerische Richtigstellung. Hausärztliche Versichertenpauschale. Erforderlichkeit eines Arzt-Patienten-Kontaktes. grob-fahrlässige Abgabe einer unrichtigen Abrechnungs-Sammelerklärung. Richtigstellung auch bezüglich auffälligen Gebührenordnungspositionen (GOP) des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes (juris: EBM-Ä 2008). fehlender Nachweis vollständiger Leistungserbringung. Befragung am Empfangstresen keine kurativ-ambulante Behandlung
Leitsatz (amtlich)
1. Die hausärztliche Versichertenpauschale kann nur bei einem persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt abgerechnet werden, der auf die Feststellung des Vorliegens bzw. Nichtvorliegens einer Erkrankung ausgerichtet ist und ggf. auf die Ergreifung von Behandlungsmaßnahmen abzielt, die die Krankheit heilen oder lindern.
2. Die grob-fahrlässige Abgabe einer unrichtigen Abrechnungs-Sammelerklärung bzgl. eines Behandlungsfalles berechtigt die Kassenärztliche Vereinigung zu einer umfassenden sachlich-rechnerischen Richtigstellung auch hinsichtlich solcher GOP, in denen sie eine unrichtige Abrechnung aufgrund von Auffälligkeiten annimmt, wenn der Vertragsarzt mangels ausreichender Dokumentation eine vollständige Leistungserbringung nicht nachweisen kann.
3. Die bloße Befragung eines Patienten zum Grund seiner Vorsprache am Empfangstresen durch den Vertragsarzt persönlich und die „medizinische Verwertung“ der getätigten Angaben stellt keine kurativ-ambulante Behandlung dar, die zur Abrechnung der hausärztlichen Versichertenpauschale berechtigt.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin
vom 29. Juli 2020 geändert. Die Klage wird insgesamt abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des gesamten Verfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Umstritten ist die Rechtmäßigkeit einer sachlich-rechnerischen Richtigstellung des Honorars des Klägers für die Quartale I/2012 bis III/2013 und IV/2014 bis III/2015 in Höhe von insgesamt noch 332.115,13 Euro.
Der Kläger ist Facharzt für Allgemeinmedizin und nimmt seit dem 1. Juli 1978 an der vertragsärztlichen Versorgung teil (hausärztlicher Bereich).
Im streitigen Zeitraum beschäftigte er in seiner Einzelpraxis keine Mitarbeiter. Der Kläger organisierte daher seinen Praxisalltag wie folgt: Der Kläger führte ausschließlich offene Sprechstunden ohne Vorbestellung durch. Die Patienten stellten sich in eine Warteschlange, die teilweise bis in den Hausflur reichte. In seiner Praxis begrüßte der Kläger die Patienten selbst am Empfangstresen in der Reihenfolge ihres Erscheinens, nahm die Versichertenkarte entgegen und befragte sie bereits dort nach dem Grund ihres Besuches, ihrem Befinden und/oder nach der Medikamenteneinnahme. Die von den Patienten getätigten Angaben verwertete er nach seinen eigenen Angaben medizinisch. Er selbst stellte sodann Rezepte (auch im Wiederholungsfall) und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sowie Atteste über Schulunfähigkeit aus. Der Tätigkeitsschwerpunkt des Klägers lag an Tagen mit vielen Patienten in der Ausstellung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und Schulunfähigkeitsattesten aufgrund von Diagnosen wie R51 (Kopfschmerz), J00 (Erkältungsschnupfen), K29.1 (akute Gastritis), M54.4 (Lumboischialgie), J03.9 (akute Tonsillitis) und R11 (Übelkeit und Erbrechen). In seiner Patientenkartei dokumentierte er die gestellte Diagnose, die abgerechnete Leistung (GOP), ggf. verordnete Medikamente, ausgestellte Bescheinigungen sowie die Dauer einer etwaigen Arbeitsunfähigkeit. Wegen der Einzelheiten wird auf Blatt 106 bis 224 der Gerichtsakte [GA] verwiesen.
Für seine Leistungen als Hausarzt rechnete der Kläger gegenüber der Beklagten in den streitigen Quartalen überwiegend die Versichertenpauschale ab, wohingegen Leistungen wie Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen selten und die Verwaltungspauschale gar nicht abgerechnet wurden.
Darüber hinaus rechnete er in den Quartalen I/2012 bis III/2013 den Chronikerzuschlag für Patienten mit chronischen Erkrankungen bereits bei erstmaliger Vorsprache im jeweiligen Quartal ab. Auf die von der Beklagten eingereichten Abrechnungsscheine (Bl. 424 ff. GA) wird insoweit Bezug genommen.
Im Einzelnen rechnete der Kläger in den streitigen Quartalen die Versichertenpauschale und den Chronikerzuschlag zur Versichertenpauschale im Vergleich zum Fachgruppendurchschnitt wie folgt ab:
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Quartal |
Anzahl VP Fachgruppe |
Anzahl VP Kläger |
GOP 03110 |
GOP 03111 |
GOP 03112 |
GOP 03212 |
Bl. VA |
I/2012 |
805 |
2427 |
13 |
2332 |
82 |
134 |
15, 17 |
II/2012 |
762 |
2160 |
6 |
2073 |
81 |
132 |
31, 33 |
III/2012 |
760 |
2562 |
5 |
2470 |
87 |
134 |
46, 48 |
IV/2012 |
803 |
2436 |
5 |
2366 |
65 |
113 |
62, 64 |
I/2013 |
877 |
2971 |
11 |
2891 |
69 |
133 |
76, 78 |
II/2013 |
824 |
2972 |
6 |
2889 |
77 |
142 |
91, 93 |
III/2013 |
822 |
3176 |
5 |
3100 |
71 |
121 |
105, 107 |
Bl. GA |
15 |
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Quartal |
Anzahl VP Fachgruppe |
Anzahl VP Klä... |