Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht: Zuerkennung des Merkzeichens G. Zulässigkeit der Anwendung der AHP bei der Beurteilung der Gehfähigkeit

 

Orientierungssatz

1. Bei der Beurteilung des Vorliegens einer Einschränkung der Gehfähigkeit eines Schwerbehinderten, welche die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ rechtfertigt, sind auch nach dem 1. Januar 2009 die zuvor in den Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) entwickelten Grundsätze anzuwenden.

2. Einzelfall zur Zuerkennung des Merkzeichens „G“ bei einem schwerbehinderten Menschen (hier: Zuerkennung bejaht).

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. August 2012 geändert. Der Beklagte wird unter Änderung seines Bescheides vom 30. Juli 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 2010 verpflichtet, bei dem Kläger die medizinischen Voraussetzungen für das Merkzeichen G ab dem 5. März 2014 festzustellen.

Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten für das Berufungsverfahren zu zwei Dritteln zu erstatten. Im Übrigen findet keine Kostenerstattung statt.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Zuerkennung des Merkzeichens G.

Bei dem 1947 geborenen Kläger hatte der Beklagte im Juni 1995 einen Grad der Behinderung (GdB) von 30 festgestellt. Auf einen Neufeststellungsantrag des Klägers vom 10. Juli 2007 stellte der Beklagte zunächst mit Bescheid vom 31. Januar 2008 einen GdB von 50 fest und zwar auf der Grundlage eines Gutachtens der Fachärztin für Chirurgie Dr. L nach Untersuchung des Klägers am 10. Juli 2009. Danach lagen beim Kläger mit jeweiligem Einzel-GdB in Klammerzusatz vor:

- nach dem OEG anzuerkennende Schädigungsfolge (20),

- muskulär unvollständig kompensierter vorderer Kreuzbandriss des rechten Kniegelenks,

- Läsion des Innenmeniskus (20),

- operativ behandelter Bruch des 5. Mittelhandknochens rechts mit verbliebenden Restbeschwerden, reizlose Operationsnarbe (10,)

- degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Bandscheibenschäden, Nervenwurzelreizerscheinungen der Wirbelsäule, Wirbelsäulenverformung (40),

- chronisch venöse Insuffizienz des Beines (10),

- Neigung zur nervösen Dysregulation (10).

Nach Einholung eines Gutachtens der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie G vom 28. April 2008 setzte der Beklagte mit Bescheid vom 30. Juli 2008 den GdB auf 60 herauf und füge den vorgenannten Funktionsstörungen die weitere Störung psychische Störung (GdB 30) hinzu.

Mit seinem hiergegen gerichteten Widerspruch begehrte der Kläger die weitere Zuerkennung des Merkzeichens G. Mit Widerspruchsbescheid vom 14. Mai 2010 wies der Beklagte nach Einholung eines Gutachtens durch den Facharzt für Orthopädie J vom 20. April 2010 zurück.

Mit der am 13. Juni 2010 erhobenen Klage hat der Kläger zunächst die Feststellung eines höheren GdB als 60 und der medizinischen Voraussetzungen des Merkzeichens G begehrt, sich dann jedoch auf das Merkzeichen beschränkt. Das Sozialgericht hat ein Gutachten des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. B vom 20. September 2011 eingeholt und die Klage mit Urteil vom 23. August 2012 abgewiesen. Zur Begründung hat es sich im Wesentlichen auf das Gutachten des Dr. B gestützt. Soweit sich der Kläger auf psychosomatische Störungen bezogen habe, sei dies unerheblich, da psychisch erkrankte Personen, deren Leiden nicht mit Anfällen gleichzusetzen seien und nicht zu Störungen der Orientierungsfähigkeit führten, sondern lediglich mit Angstzuständen einhergingen, nicht in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt seien. Das Urteil ist der Prozessbevollmächtigten des Klägers am 30. August 2012 zugestellt worden.

Mit der am 29. September 2012 erhobenen Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. A vom 3. Juni 2013. Danach leide der Kläger an einer neurasthenischen Entwicklung auf dem Boden einer anankastischen Persönlichkeitsstörung, nachdem OEG anerkannten Schädigungsfolgen (einschließlich der Restsymptomatik einer psychogenen Traumareaktion), LWS- und HWS-Beschwerden leichten Grades ohne neurologisches Defizitsyndrom sowie Folgen eines beidseits operierten Krampfaderleidens der Beine mit Restsymptomen einer Teilparese des Nervus Peroneus. Der Gesamt-GdB solle nach Auffassung des Sachverständigen mit 70 bemessen werden. Nach Auffassung des Sachverständigen sei eine Einschränkung des Gehvermögens weder aus somatischen noch aus psychiatrischen Gründen festzustellen.

Mit Schriftsatz vom 2. Juni 2003 hat der Beklagte ein von ihm sog. „Teilanerkenntnis“ dahingehend abgeben, dass der Grad der Behinderung ab September 2010 mit 70 festgestellt werde. Der Kläger ist unter Annahme des „Teilanerkenntnisses“ mit Schriftsatz vom 16. August 2013 dem Ergebnis der Begutachtung in Übrigen entgegengetreten und hat die Auffassung vertreten, da...

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