Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen der Rechtmäßigkeit einer rückwirkenden Aufhebung von Leistungen der Grundsicherung wegen zugeflossenen Einkommens
Orientierungssatz
1. Der Erlass eines endgültigen Bescheides ist kein taugliches Instrumentarium, wenn u. a. nur die Möglichkeit einer prospektiven Schätzung der Einkommenssituation des Hilfebedürftigen bei der Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung besteht. In einem solchen Fall ist der Anwendungsbereich des § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB 2 i. V. m. § 328 Abs. 1 SGB 3 eröffnet.
2. § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB 2 verweist ergänzend auf § 330 Abs. 2 SGB 3. Danach ist bei Vorliegen der in § 45 Abs. 2 S. 3 SGB 10 genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes diese auch mit Wirkung für die Vergangenheit vorzunehmen.
3. Das Merkmal der in § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 SGB 10 erforderlichen groben Fahrlässigkeit ist nur dann erfüllt, wenn der Leistungsbezieher aufgrund einfachster Überlegungen mit Sicherheit hätte erkennen können, dass der ergangene Verwaltungsakt rechtswidrig war.
4. Ist dem Leistungsempfänger grobe Fahrlässigkeit nicht vorzuwerfen, so ist die Rücknahmeentscheidung des Grundsicherungsträgers aufzuheben.
Tenor
Auf die Berufung der Kläger wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 10. Oktober 2019 aufgehoben.
Die Bescheide des Beklagten vom 22. November 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. März 2017 werden aufgehoben.
Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Kläger in beiden Instanzen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Kläger wenden sich gegen eine (Teil-)Aufhebung der Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) für April 2015 und Juni bis August 2015.
Der Beklagte bewilligte den 1950 geborenen, im Streitzeitraum in Bedarfsgemeinschaft lebenden Klägern zuletzt für die Zeit vom 1. März 2015 bis 31. August 2015 SGB II-Leistungen iHv mtl 823,48 € bzw - für August 2015 - iHv mtl 471,18 € (Regelbedarf jeweils mtl 197,27 € bzw ≪April bis Juli 2015≫ mtl 144,- € und Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung ≪KdUH≫ mtl jeweils 258,86 € ≪März 2015≫, 267,74 € ≪April bis Juli 2015≫ bzw 235,59 € ≪August 2015≫; Bescheide vom 10. März 2015 und - für August 2015 - vom 1. Juli 2015). Seit 1. Januar 2015 bezog der am 23. Mai 1950 geborene Kläger Altersrente für langjährig Versicherte (mtl Zahlbetrag ab 1. Juli 2015 = 361,06 €; Nachzahlung für Januar bis Juni 2015 = 2.112,96 €). Der Leistungsbewilligung legte der Beklagte im Streitzeitraum ein Nettoentgelt des Klägers iHv mtl 640,- € (lt Arbeitsvertrag mit A I für eine ab 17. Dezember 2014 ausgeübte Beschäftigung als Servicemitarbeiter, auf dessen Inhalt Bezug genommen wird) und für August 2015 zusätzlich eine Rentenzahlung iHv 352,29 € zugrunde. Die Klägerin ist seit 1. September 2015 Regelaltersrentnerin.
Tatsächlich hatte der Kläger tatsächliche Nettoentgeltzuflüsse aus der genannten Beschäftigung iHv mtl 1.247, 21 € (im April 2015), 733,13 € (im Juni 2015), 1.713,12 € (im Juli 2015) und 1.592,19 € (im August 2019). Nach Anhörung der Kläger hob der Beklagte mit Bescheiden vom 22. November 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. März 2017 wegen nachträglicher Erzielung von Einkommen des Klägers zu 2) die Bewilligung von SGB II-Leistungen für April 2015 und Juni 2015 teilweise (April 2015: Regelleistungen in voller Höhe und KdUH-Leistungen iHv mtl 30,61 €; Juni 2015: Regelleistungen iHv mtl 20,47 €) und für Juli und August 2015 „ganz“ auf; auf die in den Bescheiden dargestellte Berechnung und Aufschlüsselung nebst Berechnungsbögen wird Bezug genommen. Ferner forderte der Beklagte - nach Minderung gemäß § 40 Abs. 9 SGB II in der bis 31. Dezember 2016 geltenden Fassung (aF) - Erstattung eines Betrages iHv jeweils 618,45 € Die Widersprüche blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 6. März 2017).
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die auf Aufhebung der Bescheide vom 22. November 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. März 2017 gerichtete Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 10. Oktober 2019). Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei nicht begründet. Der Beklagte habe für die streitigen Monate die Bewilligung von SGB II-Leistungen im verlautbarten Umfang zu Recht auf der Grundlage von § 40 SGB II iVm §§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X), 330 Abs. 3 Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung - (SGB III) ohne Ausübung von Ermessen aufgehoben. Der Kläger habe nach Bekanntgabe der Bewilligungsbescheide Einkommen erzielt, das bei der Leistungsberechnung gemäß § 11 Abs. 1 SGB II abzgl der nach § 11b SGB II abzusetzenden Beträge zu berücksichtigen gewesen sei. Berechnungsfehler des Beklagten seien nicht ersichtlich. Die Grundfreibeträge und der Erwerbstätigenfreibetrag seien zutreffend in Ansatz gebracht worden, auch in den Monaten, in denen zwei Gehal...