Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. zulässige Beschränkung auf das Berufungsverfahren. Ermittlung der Überlänge. Gesamtverfahrensdauer als materiell-rechtlicher Bezugsrahmen. instanzübergreifende Verrechnung nicht aufgebrauchter Vorbereitungs- und Bedenkzeiten aus anderen Instanzen. Verteilung nach zeitlicher Reihenfolge auf die zuerst angefallenen Verzögerungszeiten. Zuerkennung einer Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten für Revisionsverfahren vor dem BSG. 3 Monate für ein Anhörungsrügeverfahren vor dem BSG. Anhörungsrügeverfahren als unselbstständiges Annexverfahren. kurzzeitige Aktenübersendung zur Bearbeitung von Vergütungsanträgen in einer anderen Instanz. Abwarten auf Rücklauf von Verfahrensakten. Verschiebung des Verhandlungstermins aufgrund Kontaktbeschränkungen während der COVID-19-Pandemie. klägerisches Prozessverhalten. Behinderung des Zugangs weitergeleiteter Schreiben. Relevanz für die Verfahrensführung. Wiedergutmachung auf sonstige Weise. keine Geldentschädigung für exzessiven Vielkläger
Leitsatz (amtlich)
1. Es steht einem Kläger frei, den Klagegegenstand auf einen abtrennbaren Teil des Gesamtverfahrens zu beschränken und damit den Prozessgegenstand zu bestimmen (Anschluss an BSG vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 7/14 R = SozR 4-1720 § 198 Nr 10 RdNr 14 und BVerwG vom 17.8.2017 - 5 A 2/17 D = Buchholz 300 § 198 GVG Nr 7 RdNr 19).
2. Materiell-rechtlicher Bezugsrahmen eines derart beschränkten prozessualen Begehrens bleibt jedoch gleichwohl das gesamte gerichtliche Verfahren, auch wenn dieses über mehrere Instanzen oder vor verschiedenen Gerichten geführt worden ist (Anschluss an BSG vom 24.3.2022 - B 10 ÜG 4/21 R = SozR 4-1720 § 198 Nr 21 RdNr 28 mwN).
3. Das Anhörungsrügeverfahren setzt kein selbstständiges Verfahren in Gang, sondern ist dem vorangegangenen, hier durch den angegriffenen Beschluss zunächst beendeten Verfahren als Annex angegliedert (Anschluss an BSG vom 10.7.2014 - B 10 ÜG 8/13 R = SozR 4-1720 § 198 Nr 2 RdNr 14, BGH vom 21.5.2014 - III ZR 355/13 RdNr 10-13 mwN, BFH vom 20.3.2019 - X K 4/18 = BFHE 263, 498 RdNr 35-36).
4. Dem Bundessozialgericht stehen in der Regel für die einzelnen Verfahren im selben Umfang Vorbereitungs- und Bedenkzeiten zur Verfügung wie dies bei den Instanzgerichten der Fall ist. Dass es sich beim Bundessozialgericht nicht um eine Tatsacheninstanz handelt, rechtfertigt keine andere Entscheidung.
5. Für ein (auch) als Revisionsverfahren behandeltes Verfahren steht in der Regel eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von zwölf Monaten zur Verfügung.
6. Für ein Anhörungsrügeverfahren ist den Gerichten eine zusätzliche Vorbereitungs- und Bedenkzeit von drei Monaten einzuräumen (so schon LSG Berlin-Brandenburg vom 5.6.2022 - L 37 SF 216/20 EK AS).
7. Ist es sowohl im Klage-, als auch im Berufungsverfahren zu Phasen der gerichtlichen Inaktivität gekommen, die nicht durch die dem Sozial- und dem Landessozialgericht jeweils zur Verfügung stehenden Vorbereitungs- und Bedenkzeiten abgedeckt sind, können die verbleibenden Verzögerungszeiten grundsätzlich durch Vorbereitungs- und Bedenkzeiten, die das Bundessozialgericht im/in sich anschließenden dortigen Verfahren nicht aufgebraucht hat, kompensiert werden (Anschluss an BSG vom 24.3.2022 - B 10 ÜG 4/21 R aaO RdNr 28).
8. Diese Zeiten sind zur Kompensation vorrangig der zuerst aufgetretenen Verzögerungen heranzuziehen, auch wenn diese in einem Verfahrensabschnitt angefallen sind, der letztlich nicht zum Gegenstand des Entschädigungsverfahrens gemacht wurde.
Orientierungssatz
1. Zeiten, in denen ein Gericht auf angeforderte Akten wartet, sind nicht als entschädigungsrelevante Inaktivitätszeiten zu werten, falls nicht das Gebot der Verfahrensbeschleunigung ausnahmsweise bereits vorher verfahrensfördernde Maßnahmen gebietet (vgl BSG vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 1/16 R = BSGE 124, 136-153 = SozR 4-1720 § 198 Nr 16).
2. Die kurzzeitige Übersendung der Verfahrensakten zur Bearbeitung eines Vergütungsantrags in einer anderen Instanz ist grundsätzlich nicht ermessensfehlerhaft und es muss hierzu auch kein Aktendoppel gefertigt werden. Dies gilt auch für Aktenrücksendungen seitens des BSG.
3. Eine Verschiebung des Termins zur mündlichen Verhandlung vor dem Hintergrund der ab dem 23.3.2020 geltenden Kontaktbeschränkungen wegen der COVID-19-Pamdemie begründet keine der Verantwortungssphäre des Beklagten zuzuordnende Verfahrensverzögerung.
4. Die Behinderung des Zugangs verschiedener weitergeleiteter Schreiben der übrigen Beteiligten an den Kläger fällt im Hinblick auf die Ermittlung der Verzögerungszeiten nicht in den Verantwortungsbereich des Klägers, wenn diese keinen Einfluss auf die Verfahrensführung des Gerichts gehabt hat (was sich hier daran zeigt, dass das Gericht zu keinem Zeitpunkt versucht hat, die Schreiben erneut zu übersenden und damit der Kenntnisnahme des Klägers vom Inhalt der Schreiben offenbar keine Bedeutung beigemessen hat).
5. Für einen Vielkläger, bei dem sich letztlich der Eindruck ...