Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Krankenversicherung: Versicherungspflicht für Rentenbezieher. Zulässigkeit der nachträglichen Beitragserhebung. Versicherungspflicht bei vor Eintritt in den Rentenbezug bestehender freiwilliger Versicherung als Anwartschaftsversicherung bei Auslandsaufenthalt. Anwendung der Grundsätze gestörter Äquivalenz auf eine Nachzahlungsforderung aus Krankenversicherungsbeitrag
Orientierungssatz
1. Auch ein zuvor in der gesetzlichen Krankenversicherung freiwillig versichertes Mitglied wird mit Eintritt des Bezugs einer Regelaltersrente Pflichtmitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung, selbst wenn sich der Betroffene im Ausland aufhält und die Mitgliedschaft in der Krankenversicherung als sog. Anwartschaftsversicherung bestand.
2. Hat ein mit Beginn eines Altersrentenbezugs in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert gewordener vormals im Rahmen einer Anwartschaftsversicherung freiwillig Versicherter in Unkenntnis der nunmehr bestehenden Versicherung Heilbehandlungskosten selbst getragen, so kann er einer nachträglichen Beitragsforderung eine schwere Störung des Äquivalenzverhältnisses in der konkreten Versicherungsbeziehung entgegen halten, mit der Folge, dass er von der Beitragszahlung in einem zurückliegenden Versicherungszeitraum frei wird.
3. Für die Annahme einer Verwirkung der nachträglichen Beitragserhebung in der gesetzlichen Krankenversicherung genügt nicht der bloße Zeitablauf. Vielmehr setzt die Annahme einer Verwirkung voraus, dass zu einem längeren Zeitraum der ausbleibenden Geltendmachung auch besondere Umstände hinzu treten, aus denen der Beitragspflichtige schließen kann, dass der Träger der Versicherung die Beiträge nicht mehr geltend machen will.
4. Einzelfall zur Pflichtversicherung eines Rentenempfängers in der gesetzlichen Krankenversicherung bei vorausgehender freiwilliger Versicherung und Auslandsaufenthalt.
5. Einzelfall zur Bewertung des Vorliegens einer Verwirkung in Bezug auf einen Krankenversicherungsbeitrag aus der gesetzlichen Krankenversicherung.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 17. August 2010 geändert.
Der Bescheid vom 07. Dezember 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. März 2009 wird aufgehoben, soweit er für den Zeitraum vom 01. April 2002 bis 31. Oktober 2003 den vom Kläger zu tragenden Beitragsanteil zur Krankenversicherung in Höhe von insgesamt 1648,64 Euro als zu erstatten festgesetzt hat.
Der Bescheid vom 09. Dezember 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juni 2009 wird aufgehoben hinsichtlich des Versichertenanteils zur Krankenversicherung.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Klage gegen die Beigeladene wird abgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zur Hälfte zu erstatten.
Im Übrigen sind keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die nachträgliche Erhebung von Pflichtbeiträgen zur Kranken- bzw. Pflegeversicherung für die Zeit vom 01. April 2002 bzw. vom 01. Mai 2004 bis 30. November 2005 in Höhe von insgesamt 4.300,93 Euro sowie gegen die Erhebung von Pflichtbeiträgen zur Krankenversicherung zum 01. Januar 2009. Außerdem begehrt er von der Beigeladenen, ihm 4.393 Euro zu erstatten und die seit dem 01. November 2007 einbehaltenen Beiträge zu ersetzen.
Der im August 1936 geborene Kläger, der deutscher Staatsangehöriger ist, ist seit 1961 und nach Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit als Elektroingenieur im Jahr 1991 als freiwilliges Mitglied bei der Beigeladenen krankenversichert. Wegen eines beruflich bedingten überwiegenden Auslandsaufenthaltes in U bestand eine so genannte Anwartschaftsversicherung ab 01. Dezember 1994 für die Krankenversicherung und ab 01. Januar 1995 auch für die Pflegeversicherung. Im Dezember 1999 verlegte der Kläger auch seinen Wohnsitz vollständig nach U.
Nachdem die Beigeladene vom im März 1999 gestellten Rentenantrag des Klägers Kenntnis erlangt hatte, teilte sie ihm mit Schreiben vom 07. April 1999 u. a. mit, dass der Rentenversicherungsträger sie über die Bewilligung der Rente informieren und sie sich dann mit dem Kläger in Verbindung setzen werde. Außerdem unterrichtete sie den Kläger darüber, dass die Voraussetzungen für die Pflichtversicherung in der Krankenversicherung der Rentner nicht gegeben seien, weil er die erforderliche Vorversicherungszeit nicht erfüllt habe. Darüber informierte sie auch die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (nachfolgend ebenfalls Beklagte genannt) unter gleichzeitiger Stornierung ihrer früheren Meldung, wonach der Kläger bis März 1999 freiwillig krankenversichert und nach § 20 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) pflichtversichert in der Pflegeversicherung gewesen sei.
Mit Bescheid vom 07. Dezember 1999 bewilligte die Beklagte dem Kläger Altersrente für langjährig Versicherte ab 01. September 1999 bei 49,3207 persönlichen Entgelt...