Entscheidungsstichwort (Thema)
Leistungen der Grundsicherung bei dauerhafter voller Erwerbsminderung. Transsexualität. unvollendet gebliebene Geschlechtsumwandlung. Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung wegen voller Erwerbsminderung, wenn es wegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen keine entsprechenden konkreten Arbeitsplätze gibt
Orientierungssatz
1. Eine volle Erwerbsminderung nach § 41 Abs. 1 SGB 12 (bis 31.12.2004: § 1 GSiG) iVm § 43 Abs. 2 SGB 6 als Voraussetzung für die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung liegt vor, wenn eine Person nach Geschlechtsumwandlung vom männlichen ins weibliche Geschlecht nach dem Transsexuellengesetz auf Grund der psychischen Belastung durch die nicht abgeschlossene Geschlechtsanpassung und dem Fehlen einer Ausbildung dauerhaft weder Teamarbeit mit Männern und Frauen noch allein Arbeiten von wirtschaftlichem Wert verrichten kann.
2. Für die Feststellung der vollen Erwerbsminderung gilt wegen der Bezugnahme des § 41 Abs. 1 SGB 12 auf § 43 Abs. 2 SGB 6 die vom BSG entwickelte konkrete Betrachtungsweise. Dass die volle Erwerbsminderung nach § 41 Abs. 1 "unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage" erfolgen soll, steht dieser Auslegung nicht entgegen. Konkrete Arbeitsplätze müssen wenigstens vorhanden sein, seien sie frei oder besetzt. Die konkrete Benennung eines Arbeitsplatzes ist dann erforderlich, wenn eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine spezifische Leistungsbehinderung vorliegt.
3. Volle Erwerbsminderung liegt dauerhaft auch dann vor, wenn für den Abschluss einer Geschlechtsanpassung, die zur Behebung der vollen Erwerbsminderung führen könnte, aus Gleichbehandlungs- und Kostengründen nur eine mehrjährige, mit zusätzlichen psychischen Belastungen verbundene hautärztliche Behandlung in Betracht kommt (hier: Epilation, nämlich Beseitigung des Bartwuchses, mit Spritzen und Hormontherapie durch den Arzt anstatt der insgesamt teureren Behandlung durch eine Kosmetikerin).
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 13. Juli 2006 sowie der Bescheid des Beklagten vom 27. Dezember 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juni 2005 aufgehoben.
Der Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin Leistungen der Grundsicherung ab Mai 2004 zu gewähren.
Der Beklagte hat die der Klägerin entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Dem Beklagten werden Verschuldenskosten in Höhe von 225,- Euro auferlegt.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin beansprucht die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung.
Die 1963 als Kind männlichen Geschlechts geborene Klägerin besitzt keinen regulären Schulabschluss; sie hat die Sonderschule besucht. Eine Berufsausbildung hat sie nicht durchlaufen. Ihren Lebensunterhalt hat sie - abgesehen von einer mehrmonatigen Beschäftigung als U-Bahnhof-Reiniger im Jahre 1984 - durch Gelegenheitsarbeiten und Sozialhilfe bestritten (vergleiche Aufstellung in SpD-Akte).
Nach mehreren Untersuchungen/Begutachtungen erfolgte 1993 in Anwendung des Transsexuellengesetzes die Namensänderung in “C„ und Anfang 1994 eine geschlechtsumwandelnde Operation. Postoperativ kam es zu einer Bein- und Beckenvenenthrombose links. Die zur weiteren Geschlechtsanpassung vorgesehene Epilationsbehandlung (starker Bartwuchs) unterblieb bisher, da die von der Klägerin gewünschte und vom Gesundheitsamt des Bezirksamtes Reinickendorf wegen der zeitlichen Begrenzung befürwortete (aber teurere) Behandlung bei einer Kosmetikerin und nicht bei einem Hautarzt von dem Landesarzt Dr. R, Landesärztliche Dienststelle für geistig und seelisch Behinderte bei der Senatsverwaltung für Gesundheit, abgelehnt wurde (Stellungnahme vom 20. Juni 1995), da die Situation im Wesentlichen zu erwarten gewesen sei und eine kosmetische Epilation als Bevorzugung vor anderen Patienten angesehen werden müsste.
Die Klägerin leidet außerdem unter anderem an den Folgen einer 1995 erlittenen Fraktur des linken Knöchels sowie einer wohl 1999 erlittenen Fraktur des rechten Handgelenkes. Vom Sozialamt veranlasste Untersuchungen durch den amtsärztlichen und sozialpsychiatrischen Dienst am 6. November 2000, 4. Februar 2002, sowie 7. Februar, 6. März und 8. Mai 2003 führten zu der Einschätzung einer jeweils weiter bestehenden Arbeitsunfähigkeit und Zahlung von Sozialhilfe. Die Stellungnahme vom 21. Mai 2003 enthielt außerdem die Empfehlung, einen Antrag auf Grundsicherung zu stellen. Die Klägerin bezog noch bis Oktober 2006 Sozialhilfe und erhält seither Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Im Mai 2004 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten die Gewährung von Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz (GSiG). Nach Vorlage verschiedener Unterlagen veranlasste der Beklagte am 29. Juni 2004 die Begutachtung der Klägerin durch die LVA Berlin als gemäß § 109 a Abs. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch ...