Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht: Zuerkennung des Merkzeichens "G" bei Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr. Berücksichtigung der Grundsätze aus dem AHP bei der Zuerkennungsentscheidung
Orientierungssatz
1. Bei der Beurteilung der Gehfähigkeit im Rahmen der Zuerkennung des Merkzeichens “G„ bei Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit eines Schwerbehinderten im Straßenverkehr kann auch für Zeiten nach dem 1. Januar 2009 auf die in den Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) aufgestellten Grundsätze abgestellt werden, da diese Grundsätze jedenfalls als Gewohnheitsrecht weiter gelten.
2. Einzelfall zur Zuerkennung des Merkzeichens “G„ Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit eines Schwerbehinderten im Straßenverkehr (hier: Zuerkennung bejaht).
Normenkette
SGB IX § 69 Abs. 1, 4, § 145 Abs. 1 S. 1, § 146 Abs. 1 S. 1; VersMedV Anlage § 2
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 4. April 2013 aufgehoben sowie der Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 15. Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. November 2012 verpflichtet, bei dem Kläger mit Wirkung ab 1. Juni 2012 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens “G„ festzustellen
Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens im vollen Umfang zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).
Der 1943 geborene Kläger, bei dem ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt worden war, beantragte am 28. November 2011 einen höheren GdB und das Merkzeichen “G„. Nach Auswertung der ihm vorliegenden ärztlichen Unterlagen, u.a. des Arztbriefs des Neurologen Dr. O vom 12. Juni 2012, stellte der Beklagte bei ihm mit Bescheid vom 15. Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. November 2012 einen GdB von 70 fest, lehnte aber die Zuerkennung des Merkzeichens “G„ ab.
Mit seiner Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger die Zuerkennung des Merkzeichens “G„ begehrt. Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 4. April 2013 mit der Begründung abgewiesen, dass der Kläger hierauf keinen Anspruch habe.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Klägers, mit der er sein Begehren zunächst weiter verfolgt hat. Der Beklagte hat den Kläger versorgungsärztlich untersuchen lassen. Im Gutachten vom 27. Januar 2014 hat die Fachärztin für Anästhesiologie Dr. B die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens “G„ verneint.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Facharztes für Neurologie Dr. B vom 25. August 2014. Der Sachverständige hat dargelegt, dass bei dem Kläger eine - erstmals 2012 beschriebene - Gangstörung aufgrund einer diabetischen Polyneuropathie vorliege, die mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten sei. Funktionell hinzuzurechnen sei die schmerzbedingte Einschränkung der Gehstrecke, deren Genese offen bleibe. Für diese beiden sich direkt auf die Gehfähigkeit auswirkenden Faktoren sei ein GdB von 50 angemessen.
In der mündlichen Verhandlung vom 29. Januar 2015 hat der Kläger sein Begehren auf den Zeitraum ab Juni 2012 beschränkt.
Der Kläger beantragt bisher,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 4. April 2013 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 15. Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. November 2012 zu verpflichten, bei ihm mit Wirkung ab 1. Juni 2012 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens “G„ festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er ist unter Bezugnahme auf die versorgungsärztliche Stellungnahme vom 19. September 2014 der Ansicht, dass der Einschätzung des Sachverständigen insoweit nicht zu folgen sei, als dieser die sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Faktoren mit einem GdB von 50 bewertet habe. Denn die Schmerzen seien entweder der Polyneuropathie zuzurechnen (und damit in dem hierfür anzusetzenden GdB von 30 enthalten) oder einer Claudicatio spinalis, für welche es aber keinen entsprechenden MRT-Befund gebe.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung des Klägers ist, soweit sie aufrechterhalten wird, begründet. Das Sozialgericht hat die Klage insoweit zu Unrecht abgewiesen.
Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens “G„ ab 1. Juni 2012.
Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die in...