Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. anderes Aufenthaltsrecht. Ausübung der elterlichen Sorge für ein Kind während der Schulausbildung. ehemaliger Wanderarbeitnehmer
Leitsatz (amtlich)
1. Art 10 VO Nr 492/11/EU (juris: EUV 492/2011) begründet ein vom Zweck der Arbeitsuche unabhängiges Aufenthaltsrecht auch jedes Elternteils, der die tatsächliche Sorge für ein Kind ausübt, das sein Schulbesuchsrecht wahrnimmt.
2. Das Aufenthaltsrecht des Kindes - und damit auch dasjenige seiner Eltern - gilt nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Vorschrift ("beschäftigt gewesen ist") auch für die Kinder ehemaliger Wanderarbeitnehmer.
3. Schließlich sind die Aufenthaltsrechte nach Art 10 VO Nr 492/11/EU nicht davon abhängig, dass Eltern und Kinder über ausreichende Existenzmittel oder einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen (vgl EuGH vom 23.2.2010 - C-310/08 = NVwZ 2010, 892).
Normenkette
SGB II § 7 Abs. 1 Sätze 1, 2 Nr. 2; VO Nr. 492/11/EU Art. 10; AEUV Art. 45; RiLi 2004/38/EG Art. 24 Abs. 1; VO 883/2004/EG Art. 4
Tenor
Die Beschwerden der Antragsteller und des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 26. April 2016 werden zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller für das Beschwerdeverfahren.
Gründe
I.
Die am 28. April 2016 eingelegte Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 26. April 2016 ist statthaft und zulässig (§§ 172, 173 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG).
Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet. Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Sozialgericht den Antragsgegner verpflichtet, den Antragstellern für den Zeitraum vom 19. April 2016 bis zum 30. September 2016 vorläufig Leistungen der Sicherung zum Lebensunterhalt nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu gewähren.
Die Antragsteller haben insbesondere einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Ein Anspruch der Antragsteller zu 1. und 2. auf Leistungen nach dem SGB II ergibt sich aus § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II, dessen Voraussetzungen hier unstreitig erfüllt sind. Der Leistungsanspruch ist auch nicht gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift sind Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, und ihre Familienangehörigen von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen. Die Antragsteller zu 1. und 2. haben jedoch ein vom Zweck der Arbeitssuche unabhängiges Aufenthaltsrecht aus Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (VO 492/11/EU) glaubhaft gemacht.
Nach Art. 10 VO 492/11/EU können die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedsstaates, der im Hoheitsgebiet eines anderen Gebietsstaats beschäftigt oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsmitgliedsgebiet dieses Mitgliedsstaates wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedsstaates am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen. Hieraus leitet sich ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zunächst der Kinder ab: Kinder eines EU-Bürgers, die in einem Mitgliedstaat seit einem Zeitpunkt wohnen, zu dem dieser Bürger dort als Wanderarbeitnehmer ein Aufenthaltsrecht hatte, sind zum Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat berechtigt, um dort weiterhin am allgemeinen Unterricht teilzunehmen (ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs - EuGH -, vgl. Urteil vom 17.9.2002, Rechtssache C-413/99, und Urteil vom 23.2.2010, Rechtssache C-310/08, jeweils zur - inhaltsgleichen - Regelung in der Vorgängerverordnung (EWG) Nr. 1612/68). Ferner leitet sich aus Art. 10 VO Nr. 492/11/EU ein eigenständiges Aufenthaltsrecht auch jedes Elternteils ab, der die tatsächliche Sorge für ein Kind ausübt, das sein Schulbesuchsrecht wahrnimmt: Das einem Kind zuerkannte Recht, im Aufnahmemitgliedstaat weiterhin unter den bestmöglichen Voraussetzungen am Unterricht teilzunehmen, impliziert notwendig das Recht des Kindes auf gemeinsamen Aufenthalt mit der die elterliche Sorge tatsächlich wahrnehmenden Person (vgl. EuGH, Urteil vom 23.2.2010, Rechtssache C-310/08).
Das Aufenthaltsrecht des Kindes - und damit auch dasjenige seiner Eltern - ist nicht auf Kinder von Wanderarbeitnehmern beschränkt, es gilt nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Art. 10 VO Nr. 492/11/EU (“beschäftigt gewesen ist„) auch für die Kinder ehemaliger Wanderarbeitnehmer. Voraussetzung ist nur, dass das Kind mit seinen Eltern oder einem Elternteil in der Zeit in einem Mitgliedstaat lebte, in der dort zumindest ein Elternteil als Arbeitnehmer wohnte (vgl. EuGH, Urteil vom 23.2.2010, Rechtssache C-310/08). Schließlich sind die Aufenthaltsrechte nicht davon abhängig, dass Eltern und Kinder über ausreichende Existenzmittel oder einen umfassenden Krankenversicherung...