Entscheidungsstichwort (Thema)
Bekanntgabe von Verwaltungsakten und Widerspruchsbescheiden. Fristwahrung bei Klageerhebung
Leitsatz (redaktionell)
Für den Beginn der Klagefrist muss der Verwaltungsakt oder der Widerspruchsbescheid bekannt gegeben worden sein. Dies liegt auch schon vor, wenn der Empfänger nach dem normalen Lauf der Umstände die Möglichkeit hatte, Kenntnis zu nehmen. Bei der Zustellung durch einfachen Brief kommt die Bekanntgabefiktion des § 37 Abs. 2 S. 1 SGB X zur Anwendung. Diese Bekanntgabefiktion muss vom Kläger substantiiert bestritten werden.
Normenkette
SGG § 87 Abs. 1 S. 1, § 85 Abs. 3 S. 1; SGB X § 37; BGB § 187 Abs. 1
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 31. Mai 2022 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen und Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).
Mit Bescheid vom 17. September 2020 in der Fassung des Teilabhilfebescheides vom 27. April 2021 stellte die Beklagte fest, dass der am xxxxx 1992 geborene Kläger am 2. August 2015 Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden sei und erkannte als Schädigungsfolgen eine Sehbehinderung des rechten Auges, eine Narbe an der rechten Augenbraue und eine Schädigung der Zähne 42 im Sinne der Entstehung und 11 als mittelbare Schädigung an. Der Grad der Schädigungsfolgen (im Folgenden: GdS) liege unter 25. Dem Kläger stünde für vorübergehende Gesundheitsstörungen ein Anspruch auf Heilbehandlung für die Schädigungsfolgen ab dem 2. August 2015 zu. Ein Versorgungsleiden auf psychiatrischem Fachgebiet könne nicht festgestellt werden.
Hiergegen erhob der Kläger am 23. September 2020 Widerspruch, wobei sein Prozessbevollmächtigter das Datum des anzufechtenden Bescheides mit dem 21. September 2020 angab. Der Kläger machte u.a. geltend, an einer posttraumatischen Belastungsstörung zu leiden, die mit einem GdS von 40 zu bewerten sei, und ihn erheblich in seiner Lebensqualität einschränke.
Mit Widerspruchsbescheid vom 20. Juli 2021 änderte die Beklagte ihre Bescheide und stellte fest, dass auch eine Schädigung des Zahnes 11 im Sinne der Entstehung vorliege. Hierfür bestehe ein Anspruch auf Heilbehandlung. Der GdS betrage weiterhin unter 25. Im Übrigen wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Der Widerspruchsbescheid wurde am 20. Juli 2021 mit Einwurf-Einschreiben an den Bevollmächtigten des Klägers abgesandt. In der Sendungsverfolgung der D. AG ist zur Sendungsnummer ... angegeben: „Die Sendung wurde am 23.7.2021 zugestellt“.
Am 24. August 2021 um 15:21 Uhr (Bl. 1 der Gerichtsakte) erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht Hamburg. Mit der Klage begehrt er die Feststellung eines höheren GdS sowie die Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsstörung als Schädigungsfolge.
Die Beklagte führte mit Schriftsatz vom 10. September 2021 aus, dass die Klage nicht innerhalb der Klagefrist erhoben worden sei. Die Beklagte legte einen Ausdruck der Sendungsverfolgung unter Nennung der Sendungsnummer (...) mit dem Vermerk „Die Sendung wurde am 23. Juli 2021 zugestellt“ vor.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers bestritt zunächst den Zugang des Widerspruchsbescheides am 23. Juli 2021. Bestritten werde darüber hinaus eine formgerechte, insbesondere § 73 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung(VwGO) in Verbindung mit dem Hamburgischen Verwaltungszustellungsgesetz (HmbVwZG) entsprechende Zustellung des Widerspruchsbescheides. Der Widerspruchsbescheid hätte aufgrund der gesetzlichen Privilegierung von Rechtsanwälten als Zustellungsbevollmächtigten förmlich mit einem Empfangsbekenntnis zugestellt werden müssen. Dies sei jedoch nicht geschehen. Vom 19. Juli bis 23. Juli 2021 habe sich der Prozessbevollmächtigte im Urlaub befunden und sich in diesem Zeitraum weder an der Kanzleianschrift L. noch an der Kanzleianschrift E. aufgehalten. Ein Kanzleivertreter habe bei einer Abwesenheit von fünf Tagen nicht bestimmt werden müssen. In der Bürogemeinschaft in der E. sei niemals ein Bevollmächtigter bestimmt worden. Es sei auch sonst kein Kollege vorhanden, dessen Personal befugt gewesen sei, den Empfang zu bestätigen. Er selbst habe den Brief erstmals am 26. Juli 2021 nach Rückkehr aus seinem Urlaub zur Kenntnis genommen. Eine Bekanntgabe sei erst zu diesem Zeitpunkt erfolgt und die fehlerhafte Zustellung frühestens zu diesem Zeitpunkt geheilt. Durch die vorgelegten Unterlagen der Beklagten sei nicht nachgewiesen, dass das Schriftstück in den Briefkasten seiner Kanzlei am L. eingeworfen worden sei. Insbesondere die Hausnummer sei nicht klar ersichtlich. Es werde bestritten, dass die schriftliche Angabe der Adresse vom Postzusteller oder einer etwaigen Poststelle herrühre. Die Handschrift weise eine auffällige Ähnlichkeit mit der Handschrift der Unterzeichnerin des ...