Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen der Zuerkennung des Merkzeichens G. Störung der Orientierungsfähigkeit. Taubheit

 

Orientierungssatz

Nach §§ 228 Abs. 1 S. 1 HS. 1, 229 Abs. 1 S. 1 i. V. m. § 152 Abs. 1 und 4 SGB 9 haben Schwerbehinderte, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr. Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit muss eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese muss sein Gehvermögen einschränken. Die festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen müssen sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken. Bei Taubheit oder an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit bei Erwachsenen ist eine Störung der Orientierungsfähigkeit, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit führt, nur dann gerechtfertigt, wenn zugleich die Ausgleichsfunktion erheblich gestört ist.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 29.04.2019; Aktenzeichen B 9 SB 8/19 B)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 2. November 2016 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Beteiligten haben einander weder für das erstinstanzliche Verfahren noch für das Berufungsverfahren Kosten zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beklagte wendet sich gegen die Verurteilung, beim Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (Merkzeichen G) festzustellen. Der am … 1950 geborene Kläger leidet an einer schizophrenen Störung. Nach dem Bezug einer zunächst befristeten und dann dauerhaften Erwerbsminderungsrente bezieht er inzwischen eine Altersrente. Der Kläger, der inzwischen einen Platz in einer Wohngruppe des Vereins "L." hat, hält sich regelmäßig länger in seinem Geburtsland T. auf. Dort leben nach seinen Angaben seine Ehefrau und seine beiden Kinder. Die Flugreisen unternimmt er allein. Er hat sich jedenfalls vom 3. Mai bis zum 29. Juli 2013; ab dem 3. September 2013; vom 25. Januar bis zum 31. März 2014; vom 21. August bis zum 15. Oktober 2014; vom 28. April bis zum 3. Juni 2015; vom 31. Juli bis zum 6. September 2015; 5. Februar bis 6. März 2016; vom 30. September 2016 bis wohl zum 1. November 2016; ab dem 10. Dezember 2016; vom 2. Mai bis wohl zum 26. Juni 2017, vom 3. April bis zum 3. Mai 2018 und wieder von einem nicht bekannten Zeitpunkt diesen Jahres bis zum 10. Oktober 2018 in T. aufgehalten. Beim Kläger war zuletzt wegen einer psychischen Minderbelastbarkeit (Einzel-Grad der Behinderung (GdB): 50) und einer Schwerhörigkeit beiderseits (Einzel-GdB: 30) ein Gesamt-GdB von 60 mit Wirkung vom 17. April 2000 festgestellt worden (Neufeststellungsbescheid vom 18. August 2000). Am 9. Februar 2006 beantragte er bei der Beklagten unter Hinweis auf seine Schwerhörigkeit sowie seine geistige und psychische Störung erstmals, die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens G festzustellen, nachdem er zuvor bereits erfolglos die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen anderer Merkzeichen geltend gemacht hatte. Er legte ein Gutachten der Neurologin und Psychiaterin B. vom 19. September 2001 vor, das für den Rentenversicherungsträger erstellt worden war. Die Beklagte holte einen Befundbericht vom Neurologen und Psychiater Dr. K. ein. Die geplante Untersuchung und Begutachtung durch einen Hals-Nasen-Ohrenarzt kam wegen einer T.-reise des Klägers nicht zustande. Der versorgungsärztliche Dienst der Beklagten empfahl mit Blick auf eine Verschlimmerung der psychischen Erkrankung, den Einzel-GdB wegen der psychischen Minderbelastbarkeit auf 80 und den Gesamt-GdB auf 90 zu erhöhen. Die Voraussetzungen des Merkzeichens G würden nicht vorliegen (gutachtliche Beurteilung vom 6. April 2006). Daraufhin stellte die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Neufeststellungsbescheids vom 18. August 2000 mit Wirkung vom 9. Februar 2006 einen GdB von 90 fest. Die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens G lehnte sie ab (Neufeststellungsbescheid vom 31. Mai 2006; Widerspruchsbescheid vom 31. Januar 2007). Dagegen ging der Kläger nicht weiter vor. Am 26. Oktober 2007 beantragte er erneut die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens G unter Hinweis auf Schmerzen im rechten Bein sowie eine schmerzhafte Versteifung des rechten Kniegelenks, die sich beim Gehen entwickle; zudem werde ihm beim Gehen schwindelig und schwarz vor Augen, er bekomme Schweißausbrüche und Herzbeschwerden. Der Kläger legte Bescheinigungen des Psychiaters Dr. S. vor, der eine "wohl eher psychogene" Gehbehinderung attestierte und die Zuerkennung des begehren Merkzeichens mit der Begründung befürwortete, unter der medikamentösen Behandlung des Klägers seien Orthostasebeschwerden und Schwindel möglich. Der versorgungsärztliche Dienst der Beklagte gelangte nach Aktenlage zu der Einschätzung, ein Gesamt-GdB von 90 sei weiterhin angemessen und die Voraussetzunge...

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