Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylbewerberleistung. Analogleistung. rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer. offenes Kirchenasyl
Leitsatz (amtlich)
Weil das sog offene Kirchenasyl weder ein rechtliches noch ein tatsächliches Abschiebungshindernis darstellt, kann ausreisepflichtigen Ausländern, deren Aufenthalt sich infolge der Inanspruchnahme von Kirchenasyl verlängert hat, nicht vorgeworfen werden, dass sie die Dauer ihres Aufenthalts im Sinne von § 2 Abs 1 AsylbLG rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Schwerin vom 5. Juni 2020 geändert.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern zu 1 bis 3 vorläufig Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG in Verbindung mit dem SGB XII ab dem 7. Mai 2020 bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens, längstens bis zum 30. Juni 2021 unter Anrechnung der bereits für diese Zeit erbrachten Leistungen zu gewähren.
Der Antragsgegner hat den Antragstellern deren notwendige außergerichtliche Kosten für beide Instanzen zu erstatten.
Den Antragstellern zu 1 bis 3 wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten für das Beschwerdeverfahren bewilligt.
Gründe
I.
Die Antragsteller begehren vom Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in Verbindung mit dem SGB XII anstelle von Grundleistungen nach § 3 AsylbLG.
Der 1966 geborene Antragsteller zu 1, dessen 1973 geborene Ehefrau (Antragstellerin zu 2) und deren gemeinsamer, am 14. Januar 2001 geborener Sohn (Antragsteller zu 3) und die am 12. Dezember 2002 geborene Tochter der Antragsteller zu 1 und 2 sind iranische Staatsangehörige.
Die Familie reiste am 3. Februar 2018 mit einem in S. ausgestellten Visum in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 8. Februar 2018 Asyl. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte den Asylantrag mit Bescheid vom 11. April 2018 als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung der Antragsteller nach S. an. Die s. Behörden hätten am 10. April 2018 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung der Asylanträge erklärt.
Am 29. Juni 2018 begaben sich die Antragsteller in das offene Kirchenasyl der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde A-Stadt. Der Gemeindekirchenrat hatte vorher die Aufnahme der Familie ins Kirchenasyl beschlossen und teilte dem BAMF die Adresse der Antragsteller für die Zeit des Kirchenasyls mit. Der Antragsteller zu 3 war zu diesem Zeitpunkt 17, die Tochter der Antragsteller zu 1 und 2 15 Jahre alt.
Mit Bescheid vom 28. Januar 2019 hob das BAMF den Bescheid vom 11. April 2018 wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf. Mit Bescheid vom 4. Juni 2019 lehnte das BAMF die Anträge der Antragsteller auf Asylanerkennung ab. Die Flüchtlingseigenschaft sowie der subsidiäre Schutzstatus wurden nicht zuerkannt. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes lägen nicht vor. Die Antragsteller wurden aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen. Seit dem 23. Februar 2020 sind die Antragsteller vollziehbar zur Ausreise verpflichtet und im Besitz von Duldungen.
Am 8. Februar 2019 wurden die Antragsteller in den Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners umverteilt. Am 11. Februar 2019 beantragten die Antragsteller beim Antragsgegner die Gewährung von Leistungen. Für die Zeit ab dem 8. Februar 2019 bis 31. Dezember 2019 wurden ihnen Leistungen nach § 3 AsylbLG gewährt (Bescheid vom 22. April 2020).
Mit Bescheid vom 21. April 2020 lehnte der Antragsgegner die Gewährung von Leistungen gemäß § 2 AsylbLG ab. Nach § 2 Abs. 1 AsylbLG sei abweichend von den §§ 3 und 4 sowie 6 bis 7 das SGB XII nur auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 18 Monaten ihren tatsächlichen nicht wesentlich unterbrochenen Aufenthalt im Bundesgebiet gehabt hätten und seit ihrer Einreise zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise rechtsmissbräuchlich einen verzögernden Einfluss auf ihre Aufenthaltsdauer genommen hätten. Eine wesentliche Unterbrechung im Sinne der Vorschrift liege bei Kirchenasyl nicht vor, der Aufenthalt werde aber rechtsmissbräuchlich beeinflusst. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten liege - regelmäßig - vor, wenn sich der Leistungsberechtigte in Kirchenasyl begebe, um sich dadurch bei einer drohenden Abschiebung dem Zugriff der staatlichen Behörden zu entziehen. Ob die staatlichen Behörden durch das Kirchenasyl rechtlich oder tatsächlich an einer Abschiebung gehindert seien, sei unerheblich. Der Leistungsberechtigte wisse, dass er sich durch die Flucht ins Kirchenasyl dem (rechtmäßigen) Zugriff der staatlichen Behörden entziehe und damit im Widerspruch zur Rechtsordnung handele und dadurch auch die Aufenthaltsdauer verlängere, da dies gerade Ziel seines Handelns sei. Die Antragsteller hätten ihren Aufen...