Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziale Pflegeversicherung. Übergangsregelungen im Begutachtungsverfahren. Wiederholungsbegutachtung. Verstoß gegen § 142 Abs 1 SGB 11. Unverwertbarkeit des Gutachtens. Rechtswidrigkeit des Aufhebungsbescheids nach § 48 Abs 1 SGB 10. anonyme Anzeige nicht geeignet, eine Besserungserwartung iSv § 142 Abs 1 S 2 SGB zu begründen
Leitsatz (amtlich)
1. Eine unter Verstoß gegen § 142 Abs 1 SGB XI vorgenommene Wiederholungsbegutachtung nach § 18 Abs 2 S 5 SGB XI führt zur Unverwertbarkeit des Wiederholungsgutachtens. Der der Pflegekasse im Rahmen von § 48 Abs 1 SGB X obliegende Besserungsnachweis kann auf der Grundlage eines derartigen Gutachtens nicht erbracht werden; ein gleichwohl ergehender Aufhebungsbescheid ist rechtswidrig.
2. Eine anonyme Anzeige ist nicht geeignet, eine Besserungserwartung im Sinne von § 142 Abs 1 S 2 SGB XI zu begründen.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Stralsund vom 19. März 2019 sowie der Bescheid der Beklagten vom 03. April 2017 in der Fassung des Bescheides vom 20. April 2017, in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Juli 2017 aufgehoben.
Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt die Beklagte.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Berechtigung der Beklagten, die der Klägerin bewilligten Leistungen nach Pflegstufe II ab dem 01. Mai 2017 zu entziehen.
Die im Jahre 1941 geborene, bei der Beklagten sozial pflegeversicherte Klägerin erhält seit dem 01. April 2013 von der Beklagten Leistungen nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) in der bis zum 31. Dezember 2016 geltenden Fassung (Pflegestufe I) in Form von Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen, seit dem 01. Januar 2014 nach Nr. 2 der Norm (Pflegestufe II). Aufgrund eines Höherstufungsantrages der Klägerin erfolgte im September 2016 eine erneute Begutachtung durch den MDK, bei welcher ein Grundpflegebedarf von 131 Minuten im wöchentlichen Tagesdurchschnitt festgestellt wurde. Eine Wiederholungsbegutachtung wurde lediglich für den Fall eines Höherstufungsantrags empfohlen, da eine Zunahme des Hilfebedarfs nicht ausgeschlossen werden könne. Hierauf lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 23. September 2016 ab. Der Klägerin stünden weiterhin Leistungen nach der Pflegestufe II zu.
Nachdem die bisherige, von der Klägerin angegebene private Pflegeperson am 30. September 2016 gegenüber der Beklagten erklärt hatte, dass sie die Pflege der Klägerin ab sofort nicht mehr übernehme, wandte sich die Beklagte mit Schreiben vom 06. Oktober 2016 an die Klägerin. Sie regte an, das Leistungsangebot des zuvor nur in geringfügigem Umfang tätig gewesenen ambulanten Pflegedienstes zu erhöhen, oder eine andere private Pflegeperson zu benennen. Daraufhin teilte die Klägerin unter dem 24. Oktober 2016 neben dem bisherigen einen weiteren ambulanten Pflegedienst und mehrere Privatpersonen in M (Rheinland-Pfalz) mit, durch die die Pflege nunmehr sichergestellt werde. Sie halte sich für 4 bis 6 Wochen bei Verwandten in Rheinland-Pfalz auf.
Am 10. November 2016 ging eine anonyme Anzeige bei der Beklagten ein, worin es heißt, dass der Klägerin keine Pflegestufe zustehe. Sie sei ohne Begleitung mit Gepäck und Hund zu ihrem Sohn nach M gefahren. Das Pflegegeld sei doch für ihre Pflege gedacht und nicht für einen Urlaub. Es „wäre eine Schweinerei wenn sie weiterhin Pflegegeld bekommt.“
Am 07. Dezember 2016 bat die Beklagte den MDK Rheinland-Pfalz um eine erneute Begutachtung der Klägerin. Der MDK Rheinland-Pfalz reichte den Auftrag unter dem 18. Januar 2017 unerledigt zurück, da die Klägerin bereits wieder zu ihrem Wohnsitz auf Rügen zurückgekehrt sei. Dort erfolgte durch den MDK Mecklenburg-Vorpommern am 28. Februar 2017 eine Begutachtung der Klägerin. Hierbei wurde der Grundpflegebedarf mit 2 Minuten im wöchentlichen Tagesdurchschnitt eingeschätzt. Daraufhin hörte die Beklagte die Klägerin zu einer beabsichtigten Aufhebung der Bewilligung an. Mit Bescheid vom 03. April 2017 und mit fast wortgleichem Bescheid vom 20. April 2017, hob sie jeweils ihre Verwaltungsakte über die Bewilligung von Leistungen mit Wirkung vom 01. Mai 2017 vollständig auf, weil die Voraussetzungen für die Leistung entfallen seien.
Bereits gegen den Bescheid vom 03. April 2017 erhob die Klägerin Widerspruch. Am 19. April 2017 hat die Klägerin zudem bei dem Sozialgericht B-Stadt Klage gegen die Entziehung der Pflegestufe erhoben (S 111 P 193/17). Sie müsse selbst klagen, weil ihr Rechtsanwalt zurzeit in Urlaub sei. Das Sozialgericht B-Stadt hat den Rechtsstreit nach Anhörung der Beteiligten mit Beschluss vom 11. Mai 2017 an das örtlich zuständige Sozialgericht Stralsund verwiesen (S 12 P 27/17).
Nachdem sich im Vorverfahren für die Klägerin ihr jetziger Prozessbevollmächtigter legitimiert hatte, wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin mit an diesen gerichteten Widerspruchsbescheid vom 11. Juli 2017 zurück. Hiergegen...