Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld II. Sozialhilfe. Hilfe in sonstigen Lebenslagen. Kostenübernahme für eine Monatsfahrkarte zum Schulbesuch eines 22 km entfernt liegenden Gymnasiums. Anwendbarkeit. Schulbesuch. Notwendigkeit der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Übernahme der Kosten für eine Schülermonatsfahrkarte. Anspruch auf Übernahme der Kosten. Mehrbedarf. Erhöhung des Regelsatzes. besondere Lebenslage. einstweilige Anordnung. Sonderbedarf. Darlehensgewährung
Leitsatz (amtlich)
1. Ist der Besuch der 11. Schulklasse beim nächstgelegenen, 22 km entfernten Gymnasium nur bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel möglich, kann gegen den Sozialhilfeträger gemäß § 73 SGB 12 ein Anspruch auf Übernahme der Kosten einer Monatskarte bestehen.
2. Der Einsatz öffentlicher Mittel zur Erstattung von Schülerbeförderungskosten ist iS dieser Vorschrift gerechtfertigt, um die Teilhabechancen an der schulischen Ausbildung für Jugendliche aus armen Haushalten zu fördern.
Orientierungssatz
1. Zwar sind die Kosten für die Monatsfahrkarte eines Schülers grundsätzlich iS von § 23 Abs 1 S 1 SGB 2 iVm § 20 Abs 1 SGB 2 von der Regelleistung umfasst. Die Regelung des § 23 Abs 1 S 1 SGB 2 kommt aber nicht bei solchen Bedarfen in Betracht, die keine einmalige Bedarfsspitze darstellen, sondern dauernd und zumindest so regelmäßig wiederkehrend auftreten, dass die in § 23 Abs 1 S 3 SGB 2 angeordnete Aufrechnung faktisch eine unerträgliche Schuldenspirale zur Folge hätte.
2. Die Regelung des § 73 SGB 12 ist auch auf Leistungsempfänger nach dem SGB 2 anwendbar, da die sonstige Lebenslage weder vom pauschalierten Regelbedarf noch von einem Mehr- oder Sonderbedarfstatbestand des SGB 2 erfasst wird.
3. Eine von einer karitativen Einrichtung gezahlten Beihilfe für Schulwegkosten ist gegenüber dem Anspruch aus § 73 SGB 12 nachrangig.
Normenkette
SGB XII § 73; SGB II § 23 Abs. 1, § 12 Abs. 2 Nr. 4; SGG § 86b Abs. 1
Tenor
Auf Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Lüneburg vom 22.August 2007 aufgehoben.
Der Antragsgegner wird vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, längstens bis zum Ablauf des Schuljahres2007/2008 verpflichtet, der Antragstellerin die Kosten für eine Monatsfahrkarte zwecks Besuchs des E. in F. abzüglich der für die Vergangenheit von Dritten bereits erhaltenen Beihilfen zu zahlen.
Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten in beiden Instanzen zu erstatten.
Gründe
I.
Zwischen den Beteiligten ist die Übernahme der Kosten für eine Schülermonatsfahrkarte streitig, um mit dem Bus die 11. Gymnasialklasse besuchen zu können.
Die am 12.06.1991 geborene Antragstellerin ist Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft, bestehend aus ihren Eltern und vier weiteren Geschwistern und wohnt in G., H.. Sie steht im laufenden Bezug von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und erhält von der Beigeladenen die Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes in Höhe von 278,-- Euro monatlich sowie vom Beklagten anteilige Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 106,60 Euro monatlich. Sie besucht im Schuljahr 2007/2008 die 11. Klasse des I. in F., welches 22 km von ihrem Wohnort entfernt liegt. Bis einschließlich der 10. Schulklasse wurden die Kosten für die Anschaffung einer Monatskarte vom Schulamt bezahlt. Ab 30. August 2007 muss die Antragstellerin selbst für die Schülermonatskarte 89,25 Euro aufwenden. Bis zu einer endgültigen Entscheidung über die Kostentragungspflicht erhält sie vom Diakonischen Werk eine einmalige Beihilfe für Schulwegkosten aus einem Bildungsfond.
Am 11.01.2007 beantragte die Antragstellerin beim Antragsgegner die Übernahme der Kosten für die Anschaffung einer Monatsfahrkarte ab dem 11. Schuljahr. Der Antragsgegner lehnte den Antrag mit Bescheid vom 01.02.2007 und Widerspruchsbescheid vom 29.03.2007 ab. Über dieses Begehren ist vor dem Sozialgericht Lüneburg ein Klageverfahren anhängig (Az.: S 41 AS 662/07).
Am 3. August 2007 hat die Klägerin beim Sozialgericht Lüneburg den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt mit dem Ziel, den Antragsgegner zu verpflichten, ihre Fahrtkosten zur Schule mit dem Bus zu erstatten. Sie befinde sich in einer besonderen Notlage; ohne die Übernahme der Schülerbeförderungskosten sei es ihr nicht möglich, das Gymnasium in F. zu besuchen. Das Niedersächsische Schulgesetz gehe offensichtlich davon aus, dass Personen ab dem 11. Schuljahr ihren Schulweg mit dem Fahrrad zurücklegen könnten. Dies könne für kurze Strecken sinnvoll sein. Bei einer Entfernung von 22 km sei jedoch die Benutzung des Fahrrades unzumutbar.
Demgegenüber hat der Antragsgegner die Auffassung vertreten, dass der Schulbesuch eines Kindes aus der Schulpflicht folge und keinesfalls eine besondere Lebenslage darstelle. Weite Schulwege und daraus resultierende hohe Beförderungskosten seien insbesondere im ländlichen Raum keine Besonderheit. Für die Antragstellerin komme allenfalls eine ergänzende Leistungsgewährung durch die Bei...