Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Hilfsmittelversorgung. Hörgerät. möglichst vollständiger Behinderungsausgleich. Angleichung an Hörvermögen hörgesunder Menschen. Wirtschaftlichkeitsgebot. Erfordernis eines objektiv erheblichen bzw wesentlichen Gebrauchsvorteils gegenüber anderen, zum Festbetrag erhältlichen Hörhilfen. Anwendung des Freiburger Sprachtests. Einstufung eines Messunterschieds von 5%-Punkten bei Störschall als nicht wesentlich. Messtoleranz
Orientierungssatz
1. Teil des von den Krankenkassen nach § 33 Abs 1 S 1 SGB 5 geschuldeten - möglichst vollständigen - Behinderungsausgleichs ist es, hörbehinderten Menschen im Rahmen des Möglichen auch das Hören und Verstehen in größeren Räumen und bei störenden Umgebungsgeräuschen zu eröffnen und ihnen die dazu nach dem Stand der Hörgerätetechnik (§ 2 Abs 1 S 3 SGB 5) jeweils erforderlichen Geräte zur Verfügung stellen. Ziel der Versorgung ist die Angleichung an das Hörvermögen hörgesunder Menschen; solange dieser Ausgleich im Sinne eines Gleichziehens mit deren Hörvermögen nicht vollständig erreicht ist, kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen Hörgerät nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass die gesetzliche Krankenversicherung nur für die Aufrechterhaltung eines Basishörvermögens aufzukommen habe (vgl BSG vom 30.10.2014 - B 5 R 8/14 R = BSGE 117, 192 = SozR 4-1500 § 163 Nr 7, RdNr 47, 48).
2. Der Anspruch auf eine Hilfsmittelversorgung nach § 33 SGB 5 ist durch das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs 1 SGB 5 begrenzt. Ausgeschlossen sind danach Ansprüche auf teurere Hilfsmittel, wenn eine kostengünstigere Versorgung für den angestrebten Nachteilsausgleich funktionell in gleicher Weise geeignet ist (vgl BSG vom 10.9.2020 - B 3 KR 15/19 R = SozR 4-2500 § 33 Nr 55 RdNr 19 mwN).
3. Das begehrte Hörgerät muss einen objektiv erheblichen bzw wesentlichen Gebrauchsvorteil gegenüber anderen, zum Festbetrag erhältlichen Hörhilfen bieten. Der Hörgewinn muss sich objektivieren lassen, ein subjektiver Eindruck des Versicherten ist regelmäßig nicht ausreichend (vgl ua SG Würzburg vom 6.9.2011 - S 6 KR 401/10 = juris RdNr 26, LSG Berlin-Potsdam vom 27.11.2020 - L 9 KR 90/18 = juris RdNr 28, LSG Stuttgart vom 30.11.2021 - L 11 R 3540/20 = juris RdNr 33).
4. Der Freiburger Sprachtest ist ein geeignetes Mittel, um die Güte eines Hörsystems bewerten zu können (vgl ua LSG Stuttgart vom 30.11.2021 - L 11 R 3540/20 aaO, LSG Stuttgart vom 22.1.2020 - L 5 KR 241/18 = juris RdNr 42).
5. Ein Messunterschied von 5%-Punkten bei Störschall wird nicht als wesentlich eingestuft, denn im Freiburger Sprachtest hat ein Wort bei der Austestung eine Wertigkeit von 5%. Ein Unterschied von 5% bzw einem Wort kann jedoch auch von Zufälligkeiten und der jeweiligen Tagesform abhängen (vgl LSG Stuttgart vom 30.11.2021 - L 11 R 3540/20 aaO, LSG Stuttgart vom 2.2.2021 - L 11 KR 2192/19 = juris RdNr 29).
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 14.04.2022 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die Beteiligten streiten über eine Kostenerstattung für selbstbeschaffte Hörgeräte.
Die am 1952 geborene Klägerin leidet an einer beidseitigen Innenschwerhörigkeit und ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert sowie bei der Beigeladenen gesetzlich rentenversichert.
Die Klägerin beantragte mit Schreiben vom 16.11.2017 bei der Beigeladenen (Eingang: 30.11.2017) die Versorgung mit Hörgeräten und führte zur Begründung aus, dass die von ihr im Jahre 2011 selbstbeschafften Hörgeräte, für die die Beigeladene die Kosten aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung habe erstatten müssen, nicht mehr zum Ausgleich der Hörbehinderung reichten. Bei dem Hörgeräteakustiker H. Hörgeräte GbR (im Folgenden: Hörgeräteakustiker) habe sie mehrere Hörgeräte getestet. Einzig mit den Geräten Beyond 440 F2 habe sie ein ausreichendes Hörvermögen erreichen können. Der HNO-Arzt Dr. I. habe ihr am 03.08.2017 eine Verordnung für neue Hörhilfen ausgestellt. Sie sei noch immer bei dem Arbeitgeber Dr. J. Wohnungsbau GmbH beschäftigt und übe ihren Beruf als Immobilienkauffrau weiterhin aus. Ihre Hörbehinderung wirke sich auch im Alltagsleben stark aus. Die Klägerin legte einen Kostenvoranschlag des Hörgeräteakustikers vom 05.09.2017 vor, der für ein Widex Beyond 440 mit Reparaturpauschale einen Gesamtbetrag von 5.757,02 Euro (Kassenanteil 1.534,02 Euro und Eigenanteil 4.223,00 Euro) ausweist. Zudem legte die Klägerin der Beklagten das Ergebnis einer vergleichenden Anpassung unterschiedlicher Hörgeräte sowie eine ohrenärztliche Verordnung vom 03.08.2017 (Blatt 3 - 18 der Verwaltungsakte) und einen Auszug aus einem Schriftsatz vom 16.06.2011 vor, in dem ihr Tätigkeitsprofil beschrieben wird (Blatt 19 - 22 der Verwaltungsakte (VA)).
Mit Schreiben vom 12.12.2017 leitete die Beigeladene den Antrag unter Verweis auf § 14 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) an die Beklagte weiter.
Die Beklagte wan...