Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. wesentliche körperliche Behinderung. schwere Nahrungsmittelallergie. Integrationshelfer für den Besuch eines Kindergartens. Fehlen zumutbarer Betreuungsalternativen
Orientierungssatz
1. Eine schwere Nahrungsmittelallergie ist - insbesondere bei Kindern - regelmäßig als Behinderung iS des § 2 Abs 1 S 1 SGB 9 anzusehen.
2. Es ist zweifelhaft, ob die Betreuung eines behinderten Kindes durch eine Tagespflegeperson in gleicher Weise geeignet ist, die Aufgabe der Eingliederungshilfe zu erfüllen, insbesondere die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, wie die Betreuung in einem Kindergarten.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Eilrechtsschutz versagende Beschluss des Sozialgerichts Stade vom 3. Juni 2015 aufgehoben.
Der Antragsgegner zu 1. wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Kosten für eine persönliche Assistenz für den Besuch des Antragstellers der Kindertagesstätte D., E. -F., in einem Wochenumfang von 20 Stunden vorläufig bis zur Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers gegen den Ablehnungsbescheid des Antragsgegners zu 1. vom 9. Januar 2015, längstens jedoch bis zum 31. Dezember 2015, zu übernehmen.
Der Antragsgegner zu 1. hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu erstatten. Weitere Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes um die vorläufige Kostenübernahme für die Betreuung eines Kleinkindes mit hochgradiger Lebensmittelallergie (Erdnussallergie), durch die die Kontrolle der Nahrungsmittelaufnahme beim Besuch eines Kindergartens sichergestellt werden soll.
Der am G. 2011 geborene Antragsteller und Beschwerdeführer (im Folgenden: Antragsteller) leidet an einer hochgradigen Erdnussallergie mit einem hohen Risiko einer systemischen allergischen Reaktion bis hin zum lebensbedrohlichen anaphylaktischen Schock. Bis zu der Diagnose der Allergie im Dezember 2014 besuchte er den Kindergarten D., E. -F., in dem von den (zwei) Erzieherinnen bei einer Gruppengröße von bis zu 25 Kindern nicht gewährleistet werden konnte, dass der Antragsteller (versehentlich) Erdnüsse oder erdnusshaltige Lebensmittel zu sich nimmt. In der Folgezeit wurde der Antragsteller von seinen (jeweils berufstätigen) Eltern, seiner Großmutter und einer (ebenfalls berufstätigen) Tante zu Hause betreut. Versuche seiner Eltern, die Kita in Zusammenarbeit mit den Erzieherinnen und Eltern der anderen Kinder “erdnussfrei„ zu gestalten (u.a. durch Aufklärung beim Elternabend, Informationsbriefe an die Eltern, Warnschilder im Kindergarten, Lebensmittellisten und Schulung des Kindergartenpersonals), also das Risiko einer ungewollten Aufnahme von Allergenen zu minimieren, scheiterten.
Den Ende Dezember 2014 von den Eltern des Antragstellers gestellten Antrag auf Übernahme der Kosten für eine persönliche Assistenz während des Kindergartenbesuchs lehnte der Antragsgegner zu 1. durch Bescheid vom 9. Januar 2015 mit der Begründung ab, dass bei dem Antragsteller ein erheblicher Betreuungs- und Beaufsichtigungsaufwand - an sich zu bewältigen durch den Kindergarten und nicht durch den Sozialhilfeträger - nicht ersichtlich und das Vorliegen einer für einen Leistungsanspruch nach § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII erforderlichen wesentlichen Behinderung zumindest fraglich sei.
Gegen diese Ablehnung erhob der Antragsteller am 15. Januar 2015 Widerspruch, über den noch nicht entschieden ist. Während des Vorverfahrens nahmen die behandelnde Allergologin H., E., am 28. Januar 2015 und der Amtsarzt des Gesundheitsamts I. Dr. J. am 11. März 2015 dahingehend Stellung, dass der Antragsteller zum Besuch des Kindergartens einer ständigen Beobachtung (durch eine zusätzliche Assistenz) bedürfe, um den Kontakt mit Erdnüssen oder erdnusshaltigen Nahrungsmitteln zu vermeiden. Aus amtsärztlicher Sicht könne aber nicht beantwortet werden, welche Stelle die Kosten für die “zweifellos erforderliche stetige Beobachtung des Antragstellers„, der als starker Allergiker nicht zum Personenkreis des § 53 SGB XII gehöre, zu tragen habe. Das bei einem “runden Tisch„ im Kindergarten am 20. Februar 2015, bei dem auch die Kindergartenleitung und eine Vertreterin der Gemeinde E. zugegen waren, unterbreitete Angebot des Antragsgegners zu 1., die Kosten für eine persönliche Assistenz während der Frühstückszeit (zwei Stunden täglich) zu übernehmen, lehnten die Eltern des Antragstellers als unzureichend ab.
Am 9. April 2015 hat der Antragsteller beim Sozialgericht (SG) Stade einen gegen den Landkreis Cuxhaven als Träger der Sozialhilfe bzw. der Jugendhilfe (Antragsgegner zu 1.) sowie gegen seine Krankenkasse (Antragsgegnerin zu 2.) gerichteten Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt. Das SG hat den Antrag durch Beschluss vom 3. Juni 2015 mit der Begründung abgelehnt, der Antragsteller - vertreten durch seine Eltern - habe zum einen die besondere Eilbedürftigkeit der Sache nic...