Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld II. vereinfachtes Verfahren für den Zugang aus Anlass der COVID-19-Pandemie. Unterkunft und Heizung. Weiterbewilligungsantrag nach dem 1.3.2020 und Umzug in eine unangemessene Unterkunft ohne Zusicherung
Leitsatz (amtlich)
1. § 67 Abs 3 S 1 SGB II findet auch Anwendung, wenn die Hilfebedürftigkeit unabhängig von der Corona-Pandemie eingetreten ist.
2. § 67 Abs 3 S 1 SGB II gilt nicht nur für Erstbewilligungen, sondern erfasst auch in der Zeit von 1. März 2020 bis 31. Dezember 2020 beginnende Weiterbewilligungszeiträume.
3. § 67 Abs 3 S 1 SGB II beinhaltet eine unwiderlegbare Fiktion der Angemessenheit der tatsächlichen Unterkunftskosten. Somit erfolgt auch keine Deckelung der tatsächlich anfallenden KdU auf die nach der BSG-Rechtsprechung bei Unschlüssigkeit eines KdU-Konzepts als Hilfsmaßstab heranzuziehenden Tabellenwerte nach § 12 WoGG zuzüglich eines Sicherheitszuschlags in Höhe von 10 %.
4. Weder der Wortlaut der Norm noch die Gesetzesmaterialien sprechen für eine Begrenzung des Anwendungsbereichs des § 67 Abs 3 S 1 SGB II auf bereits seit Langem bewohnte Wohnungen. Die Norm findet daher auch auf eine nach dem 1. März 2020 erstmals bezogene Wohnung Anwendung.
5. Der Sechsmonatszeitraum nach § 67 Abs 3 S 1 SGB II beginnt am ersten Tag des (Weiter-)Bewilligungszeitraums. Bei einem Umzug im Laufe des (Weiter-)Bewilligungszeitraums in eine nach § 22 Abs 1 SGB II unangemessene Wohnung gilt die Fiktion der Angemessenheit der tatsächlichen KdU nur für die Restlaufzeit des Sechsmonatszeitraums.
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 1. September 2020 wird abgeändert.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern für die Zeit vom 1. September 2020 bis 31. Januar 2021 vorläufig Leistungen für Kosten der Unterkunft nach § 22 SGB II unter Berücksichtigung einer Bruttokaltmiete von 1.300,00 Euro pro Monat zu gewähren.
Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner erstattet den Antragstellern 1/4 der notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe wird für das Beschwerdeverfahren abgelehnt.
Gründe
I.
Die Antragsteller begehren, den Antragsgegner durch einstweilige Anordnung zu verpflichten, im Rahmen der Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) die volle Bruttokaltmiete der zum 1. September 2020 bezogenen Wohnung im N. 1, O., iHv 1.300,00 Euro pro Monat, die für diese Wohnung zu zahlenden Mietkaution iHv 3.300,00 Euro, 800,00 Euro für die Übernahme der Kücheneinrichtung, 2.500,00 Euro für die Anschaffung von Schlafzimmer- und Kinderzimmermöbeln, 1.000,00 Euro für die Anschaffung von Bekleidung, Heimtextilien und Schuhen sowie 936,69 Euro Stromschulden für ihre bisherige Wohnung zu übernehmen.
Die 1983 bzw 1985 geborenen Antragsteller zu 1. und 2. beziehen mit den in den Jahren 2002, 2004, 2007, 2011 sowie 2019 geborenen Antragstellern zu 3. bis 8. seit dem 1. Februar 2019 als Bedarfsgemeinschaft vom Antragsgegner laufende Leistungen nach dem SGB II. Vom 1. Dezember 2018 bis 31. August 2020 bewohnten sie eine 120 qm große Vier-Zimmer-Wohnung in der P. 16a, O.. Die dort anfallenden Unterkunftskosten wurden im Rahmen der Bewilligung vorläufiger SGB II-Leistungen vom Antragsgegner in voller Höhe als angemessener KdU-Bedarf anerkannt (vgl zum Bewilligungszeitraum vom 1. Februar bis 31. Juli 2020: Bewilligungsbescheid vom 14. Februar 2020; zum Bewilligungszeitraum vom 1. August 2020 bis 31. Januar 2021: Bewilligungsbescheide vom 14. Juni 2020).
Am 17. Juni 2020 beantragten die Antragsteller eine Zusicherung nach § 22 Abs 4 SGB II für den von ihnen geplanten Umzug in ein Einfamilienhaus mit sechs Zimmern im Q. Weg R. (Wohnfläche: 150 qm; Grundstücksfläche: 400 qm; monatliche Bruttokaltmiete: 1.300,00 Euro; zu zahlende Mietkaution: 3.300,00 Euro). Der Antragsgegner lehnte dies mit der Begründung ab, dass der Mietpreis die Angemessenheitsgrenze nach § 22 Abs 1 SGB II überschreite. Diese betrage für einen achtköpfigen Haushalt 919,00 Euro pro Monat (Bescheid vom 6. Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. September 2020).
Während des laufenden Widerspruchsverfahrens beantragten die Antragsteller zusätzlich zur Übernahme der Miete und der Mietkaution auch die Übernahme der Abstandszahlung für die Küche iHv von 800,00 Euro, der Kosten für die Anschaffung von Einrichtungsgegenständen für Kinder- und Schlafzimmer iHv 2.500,00 Euro sowie von Handtüchern, Kleidung und Schuhen iHv 1.000,00 Euro. Über diese weiteren Leistungsanträge hat der Antragsgegner bislang nicht entschieden, sondern die Antragsteller schriftlich um weitere diesbezügliche Angaben gebeten (Aufforderungen zur Mitwirkung vom 3. September 2020). Hierauf haben die Antragsteller - soweit ersichtlich - bislang nicht reagiert.
Am 20. August 2020 haben die Antragsteller beim Sozialgericht (SG) Hannover um einstweilig...